10.02.2023
Sieben Gründe warum sich jede:r mit der Atomindustrie befassen sollte
Ein Einblick in den Lagebericht über den Zustand der Atomenergie von Tatiana Abarzúa
Der World Nuclear Industry Status Report (WNISR) gilt als Standardwerk für diejenigen, die sich über die Entwicklung der Atomindustrie informieren möchten. Vergangene Woche stellte Projektkoordinator und leitender Autor Mycle Schneider die aktualisierte Fassung des Statusberichts im Institut für politische Studien Paris (Sciences Po) vor. Die Autorin war live dabei – online – und fasst hier wesentliche Inhalte zusammen.
1. Stand des Ausbaus: AKWs in 33 Ländern in Betrieb
Das erste AKW weltweit ging in der UdSSR ans Netz, 1954 in Obninsk, 100 Kilometer südwestlich von Moskau. In diesen sieben Dekaden stieg die Anzahl der Atomreaktoren auf 411, in insgesamt 33 Ländern (Stand Anfang Juli 2022). Genaue Angaben, über Strommenge, Anteil des Atomstroms an der Stromerzeugung und dem „historischen Maximum“ als Jahreszahl, sind in dieser Grafik anschaulich dargestellt. Fünfzehn der Atomstromländer planen einen weiteren Ausbau der Atomenergie, wie dem Bericht zu entnehmen ist. Die Anzahl der Anlagen, die in Betrieb sind, hat sich verringerte: Es sind 27 weniger als der bisherige Höchstwert von 2002 (438). Erhöht hat sich jedoch das Durchschnittsalter der Meiler (siehe nächste Grafik). Das gilt vor allem für die USA (41,2 Jahre) und Frankreich (36,6 Jahre). In Westeuropa sind die ältesten AKWs in Belgien, Finnland, Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden, in der Schweiz und in Spanien im Einsatz (die DGS-News berichteten).
2. Terawattstunden: rund 2.660
Der Anteil der Atomenergie an der Stromerzeugung weltweit sank von 17,5 % in 1996 auf 9,8 % in 2021. Die Kraftwerksleistung 2021 betrug insgesamt 369 GW, was in etwa die Größenordnung Ende 2006 entspricht (367 GW). Dieses Maximum (2.660 TWh) ist in der folgenden Abbildung veranschaulicht. Ebenso eine Kurve für den jährlichen Verlauf des Anteils des Atomstroms an der Stromerzeugung (in rot).
3. Ohne Strategiewechsel: Nach wie vor werden AKWs gebaut
Bisher sind es drei Länder, die ihre Atomkraftprogramme aufgegeben haben: Italien 1987, Kasachstan 1998 und Litauen 2009. In anderen Ländern gab es immer wieder Neubauprojekte, vor allem vor 1990. In der ersten Jahreshälfte 2022 wurden laut Statusbericht weltweit fünf neue Reaktoren in Betrieb genommen, davon zwei in China. Außerdem gibt es Länder, die im Statusbericht als „potentielle Neueinsteiger“ bezeichnet werden. Es handelt sich dabei um Bangladesch, die Türkei und Ägypten. In diesen drei Ländern befinden sich AKWs im Bau. Neubaupläne gibt es außerdem in Nigeria, Polen und Saudi-Arabien.
4. Planlos: Kein früher Atomstaat hat ein AKW bisher zurückgebaut
2021 wurden laut Bericht zwei Reaktoren stillgelegt, einer in den USA und einer in Großbritannien. Mitte 2021 waren insgesamt 22 Reaktoren abgeschaltet, von insgesamt 204, die bereits nicht mehr im Betrieb waren. Die durchschnittliche Dauer des Stilllegungsprozesses liegt bei etwa 21 Jahren, mit einem bisherigen Minimum von sechs Jahren (22-MW-Anlage in Elk River, USA) und einem Maximum von 45 Jahren (63-MW-Reaktor in Humboldt Bay, USA). Allerdings hat bis dato keines der frühen Atomstaaten ein AKW vollständig stillgelegt, wie die Berichtsautoren hervorheben, also weder Russland, Frankreich, Kanada noch Großbritannien. Für Fessenheim (Frankreich) etwa sollen die vorbereitenden Arbeiten der Demontage fünf Jahre dauern und der Rückbau 15 Jahre, wie die DGS News berichteten.
5. Insgesamt haben nur drei Länder AKWs komplett zurückgebaut
Einen Rückbau von mindestens einem AKW haben bisher nur sehr wenige Länder komplett abgeschlossen. Diese sind: die USA (17 AKWs), Deutschland (4 AKWs) und Japan (eine 10-MW-Demonstrationsanlage). Folgende Grafik zeigt einen zeitlichen Überblick zum Stilllegungsprozess der 22 Reaktoren, die bislang zurückgebaut wurden.
6. Tschernobyl beendete das Peak-Atomzeitalter
Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl setzte große Mengen radioaktiven Materials frei und verteilte es über große Flächen der Ukraine, Russland, Belarus und – in wesentlich geringerem Ausmaß – über Regionen in Skandinavien und Mitteleuropa. Das geschah vor allem in den ersten zehn Tagen nach dem Unfall, also Ende April und Anfang Mai 1986, wie das Bundesumweltministerium (BMUV) auf der Internetpräsenz mitteilt. Nach BMUV-Angaben lebten in den Gebieten mit der höchsten Strahlenbelastung zum Zeitpunkt des Unfalls 5 bis 7 Millionen Menschen. In den zwei Jahren bevor der Reaktorunfall passierte, wurden die meisten AKWs in Betrieb genommen, wie die Verfasser:innen des Statusberichts mitteilen. Es waren jeweils 33 pro Jahr (1984 und 1985, siehe auch Abbildung bei Punkt 3). Davor gab es einen Höchststand im Jahr 1974, als weltweit 26 AKWs ans Netz gingen, wie die Autor:innen recherchiert haben. Das war fünf Jahre vor dem Atomunfall von Harrisburg.
7. !!! Fukushima
In einem Monat jährt sich die Katastrophe zum zwölften Mal, bei der das stärkste Erdbeben in der Geschichte Japans und ein verheerender Tsunami zu Kernschmelzen im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi führten. Wegen der Strahlenbelastung wurden im März 2011, nach Angaben der Organisation Japanese Against Nuclear, 184.670 Menschen in einem 20-km-Radius um Fukushima Daiichi evakuiert (die DGS-News berichteten). Die WNISR-Autor:innen weisen darauf hin, dass die Situation am Gelände des AKW Fukushima Daiichi und in der Umgebung „noch lange nicht stabilisiert“ ist. Beispielsweise hat die dortige Sicherheitsbehörde zugestimmt, über 1,3 Millionen Kubikmeter kontaminiertes Wasser in den Ozean zu leiten. Und die Umsetzung dieses umstrittenen Plans werde mindestens drei Jahrzehnte dauern. Zudem müsste der Großteil des Wassers zuvor aufbereitet und zusätzlich verdünnt werden.
Der Datenstand des Statusberichts ist Oktober 2022. Die jährlichen akribischen Analysen über den weltweiten Bau, Betrieb, Stillstand und Rückbau von Atomkraftwerken (AKWs) veröffentlicht Schneider seit 2007. An der Erstellung des WNISR sind mehrere Fachleute beteiligt. Mitwirkende Autoren aus Deutschland sind: Michael Sailer (ehemaliger Sprecher der Geschäftsführung des Öko-Instituts) sowie Christian von Hirschhausen und Alexander James Wimmers (beide: TU Berlin, Fachgebiet Wirtschafts- und Infrastrukturpolitik der TU Berlin).
Die englische Fassung steht hier zum Download bereit. Für frankophile gibt es eine Zusammenfassung auf Französisch.
TV-Tipp der Redaktion: Die Atomkraft - Ende einer Ära? (Arte-Doku)