13.11.2020
Steht eine neue Auseinandersetzung um die Atomkraft bevor?
Ein Essay von Tatiana Abarzúa
Die Europäische Kommission unter Ursula von der Leyen hatte Ende letzten Jahres den "European Green Deal" verkündet, also einen nachhaltigen ökologischen Wandel. Doch in der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage von Bundestagsabgeordneten steht: In Europa werden Laufzeitverlängerungen für Atomkraftwerke "vielfach realisiert bzw. angestrebt". Das ist das genaue Gegenteil von einem nachhaltigen ökologischen Wandel.
Aktuell ist an vielen Entwicklungen zu beobachten, etwa an der aktuellen EEG-Novelle, wie der Ausbau der Erneuerbaren Energien gedrosselt wird. Da kann man nur fassungslos reagieren, wenn knapp zehn Jahre nach dem atomaren Notstand in Fukushima die Auseinandersetzung um die Atomkraft erneut beginnt. So schreibt die Bundesregierung am 19. Oktober in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage von Bundestagsabgeordneten der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Drucksache 19/22789):
"Es trifft zu, dass eine Vielzahl von Atomkraftwerken (AKW) in Europa 30 Jahre und älter ist. Ebenso ist zutreffend, dass auch in Europa die Verlängerung der Betriebsdauer von AKW über ihre ursprünglich geplante Laufzeit hinaus in den letzten Jahren bereits vielfach realisiert wurde bzw. angestrebt wird." In der Vorbemerkung der Kleinen Anfrage schreiben die Abgeordneten: "Vor allem aber leidet das Material nichtersetzbarer Teile unter der Alterung: in erster Linie die Dampferzeuger und Reaktordruckbehälter." So wurden Risse und Materialprobleme unterschiedlicher Art an nichtersetzbaren Teilen an den AKW Beznau (Schweiz), Tihange 2 und Doel 3 (Belgien) sowie Hunterston B (Großbritannien) festgestellt. Die Fragesteller befürchten Verlängerungen für die Betriebsgenehmigungen mehrerer AKWs, obwohl diese für eine Betriebsdauer von 30 bis 40 Jahren ausgelegt sind. Zudem laufen mehrere AKWs wie etwa die belgischen Kraftwerke Doel 1 und Doel 2, obwohl keine grenzüberschreitende Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) durchgeführt wurde. Nach Ansicht der Grünen Abgeordneten sei ein Teil einer möglichen Lösung "die Ergänzung der UVP-Richtlinie mit der ausdrücklichen Erwähnung der UVP-Pflicht im Falle von AKW-Laufzeitverlängerungen" ("Richtlinie 2011/92/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten Text von Bedeutung für den EWR").
Für die Europäische Kommission ist es jedoch "derzeit nicht erforderlich, die UVP-Richtlinie zu überarbeiten, da Projekte, die eine Laufzeitverlängerung von Kernkraftwerken umfassen, von ihrem Anwendungsbereich erfasst sind", wie sie in einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage vom Februar diesen Jahres mitteilt.
Alt, ganz alt
Die ältesten AKWs sind in Belgien, Finnland, Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden, in der Schweiz, und in Spanien im Einsatz. Eine Stilllegung ist derzeit nur für einzelne dieser Reaktoren geplant (vgl. Abbildung, Quelle: Bundestags-Drucksache 19/22789).
Das weckt Erinnerungen an die Laufzeitverlängerung für AKWs in Deutschland. Die wurde am 28. Oktober 2010, also ziemlich genau vor zehn Jahren, mit schwarz-gelber Mehrheit vom Bundestag beschlossen - als Kanzlerin Merkel CDU-Chefin, Norbert Röttgen Umweltminister, Rainer Brüderle Wirtschaftsminister, Wolfgang Schäuble Finanzminister und Ronald Pofalla Kanzleramtsminister waren. Die in der Novellierung des Atomgesetzes von 2002 vereinbarte Regellaufzeit wurde somit von 32 Jahre auf 40 Jahre verlängert für jene AKW, die bis 1980 ans Netz gegangenen waren; sogar auf 46 Jahre für die später errichteten AKWs. Im "Atomkonsens" von 2002 waren Reststrommengen festgelegt worden, die den AKWs je nach Inbetriebnahmedatum zugeteilt wurden. Die waren so bemessen, dass alle AKWs in Deutschland bis 2021 abgeschaltet werden sollten.
Ein Artikel der Süddeutschen Zeitung beschrieb damals die Tragweite des Ausstiegs aus dem Atomausstieg so: "Angela Merkel und ihre Regierung halten eine Verlängerung der Laufzeiten von Kernkraftwerken für so wichtig, dass sie dafür die Neuauflage eines gesellschaftlichen Konflikts in Kauf nehmen, der bereits beruhigt war."
Es war eine Überbrückungsmaßnahme für die Atomkonzerne. Die im Zuge der Laufzeitverlängerung vereinbarte "Kernbrennstoffsteuer" für die Brennelemente Uran-233 und -235 sowie Plutonium-239 und -241, die ab 2011 eine jährliche Einnahme von 2,3 Mrd. € bringen sollte, hat das Bundesverfassungsgericht (BVG) dann 2017 nachträglich als nichtig eingestuft. Die Begründungen des BVG waren: Keine Verbrauchsteuer im Sinne von Art. 106 GG und formell verfassungswidrig, da ohne Zustimmung des Bundesrates erlassen. Folglich ordnete das Gericht die Rückzahlung der Steuergelder in Höhe von 6,285 Milliarden Euro an, die von 2011 bis 2016 eingenommen worden waren.
Dabei wäre so eine Steuer für Brennelemente angesichts der noch ungelösten Frage der sicheren Lagerung radioaktiver Abfälle nach wie vor sinnvoll. Wie wir alle wissen, änderte der Lauf der Geschichte dann die Pläne der "vier Dinosaurier der Energiewirtschaft" (O-Ton Sigmar Gabriel). Im japanischen Fukushima ereignete sich eine Nuklearkatastrophe - der dritte Reaktorunfall seit Harrisburg (1977) und Tschernobyl (1986) - die dazu führte, dass auch heutzutage noch die Strahlungswerte selbst in den dekontaminierten Zonen weit über den international für die Bevölkerung geltenden zulässigen Grenzwerten liegen. Es war Wahljahr in Baden-Württemberg, Kanzlerin Merkel rief ein dreimonatiges Moratorium aus für die Verlängerung der Laufzeiten von AKWs, die vor 1980 gebaut wurden. Später folgte der Atomausstiegsbeschluss des Bundestages - mit 513 Ja- gegen 79 Nein-Stimmen - für einen schrittweisen Ausstieg aus der Atomkraft bis spätestens 2022.
Die Bundesregierung bestätigt in ihrer Antwort auf besagte Kleine Anfrage der Grünen ausdrücklich: "Deutschland hat sich für den Ausstieg aus der Atomenergie bis spätestens Ende des Jahres 2022 entschieden.". Trotzdem versuchen Befürworter der Atomkraft gerade wieder, eine Laufzeitverlängerung herbeizuführen. Kampagnenartig für eine angeblich "saubere" Atomenergie als angeblich wirksamen Klimaschutz werben beispielsweise die ultrakonservative CDU-Gruppierung Werteunion, oder Dr. Anna Veronika Wendland und Dr. Rainer Moormann auf der Internetseite https://saveger6.de/ vom Verein Nuklearia.
Vom 8. bis 11. Dezember 2020 ist ein Treffen der Vertragsstaaten der Espoo-Konvention in Wilna (Vilnius), Litauen geplant. Die Espoo-Konvention - ein internationales Übereinkommen über die Umweltverträglichkeitsprüfung im grenzüberschreitenden Rahmen - regelt den Umgang mit grenzüberschreitenden Umweltauswirkungen durch Vorhaben der Vertragsstaaten.
Im Zuge der EU-Ratspräsidentschaft wird Deutschland die Koordinierung unter den EU-Mitgliedstaaten übernehmen. Ein Thema, das auf der Tagesordnung stehen wird: Die Verpflichtung zu einer grenzüberschreitenden Umweltverträglichkeitsprüfung für Laufzeitverlängerungen von AKWs. Wie der Antwort auf jene Kleine Anfrage von Bundestagsabgeordneten zu entnehmen ist, soll ein "Leitfaden zur Anwendbarkeit der Espoo-Konvention auf Laufzeitverlängerungen" zur Entscheidung vorgelegt werden. Wir können gespannt sein.