11.06.2021
Nachhaltige Verkehrswende verbraucht Natur
Ein Bericht von Heinz Wraneschitz
Es herrscht "nicht immer nur Eintracht zwischen Klimaschutz und Circular Economy", hat der Pforzheimer Philipp Schäfer in seiner dieser Tage erschienenen Doktorarbeit herausgefunden. Das ist beispielhaft gerade in und um Nürnberg zu erleben: Das dort von der Bahn AG geplante neue ICE-Werk ist heftig umstritten.
Ja, dafür werde eine Grundfläche von über drei Quadratkilometern gebraucht. Das sei natürlich ein massiver Eingriff in die Natur, bestätigt Matthias Birkmann von der Verkehrsgewerkschaft EVG.
Doch die einmalige Investition sei notwendig, damit langfristig mehr moderne Züge eine nachhaltige Verkehrswende möglich machen: "Man darf Klimaschutz nicht gegen Naturschutz ausspielen", kritisiert der Nürnberger EVG-Geschäftsstellenleiter. Aber auch die Bahn selbst bekommt ihr Fett ab: Das Wissen um solch ein modernes Werk, in dem ICEs gewartet werden, sei bei der Bevölkerung kaum vorhanden; der Konzern habe bislang zu wenig Aufklärung in den betroffenen Gemeinden betrieben.
Auf bereits von der Bahn genutzten Flächen in und um Nürnberg sei jedenfalls kein Platz für das neue Werk: Drei bis vier Kilometer lang und zwischen 500 und 300 Meter breit müssen allein die Gleisanlagen sein, sagen Bahn und EVG übereinstimmend. Doch in einem Punkt widersprechen sie sich: Für Birkmann kommen "aus betrieblichen Gründen" eigentlich nur die zwei Standorte in Frage, die parallel zu einer Zugstrecke liegen. Die anderen sieben würden senkrecht zum Gleisanschluss angeordnet. Eine Sprecherin der Bahn sieht aber "keinen betrieblichen Mehraufwand zwischen den beiden Layoutvarianten".
Doch egal, ob längs oder senkrecht der neun Standorte, die die Bahn im Radius von 25 km um den Hauptbahnhof untersucht: Es scheint, als laufen überall die Anwohner Sturm. Angefangen hat die Gegenbewegung in Fischbach-Altenfurt auf Nürnberger Stadtgebiet: Diesen potenziellen Standort hatte die DB zuerst öffentlich gemacht. Widerstand mobilisiert sich jedoch auch im Umland, egal ob in Ezelsdorf im Nürnberger Land, Allersberg im Landkreis Roth oder Heilsbronn in Westmittelfranken.
Reichlich spät hat die Bahn darauf reagiert, will nun in Online-"Bürgerdialogen" ihre Pläne mit den jeweils räumlich Betroffenen besprechen.<
In Roßtal-Raitersaich hat sich bereits eine Interessengemeinschaft (IG) formiert, in der neben Bürger*innen auch alle demokratischen Parteien am Ort vertreten sind. Dass hier der Aufschrei besonders groß ist, muss nicht verwundern. Denn "Raitersaich ist an der Belastungsgrenze", erklärt die IG. In dem kleinen Ortsteil der Marktgemeinde Roßtal mit etwa 400 Einwohnern steht eines der größten Umspannwerke (UW) Süddeutschlands. Betreiber Tennet will das um etwa 500 Meter verlagern: Es laufen aktuellen Planungen zur Runderneuerung der so genannten "Juraleitung", die sich hier mit mehreren 380-kV-Trassen kreuzt. Und das alte UW-Gelände dürfte danach wohl zum zusätzlichen Gewerbegebiet werden.
Dennoch sei ihre IG mit dem Namen >Nicht schon wieder Raitersaich< gesprächsbereit, stellt Alexandra Költsch klar. Ob deshalb der erste Bahn-"Dialog" mit den Bürger*innen hier stattfand?
Das Interesse jedenfalls war riesig am Dienstag vergangener Woche: 220 Teilnehmende waren online; einer davon war der Raitersaicher Kurt Kröner. Der zeigte sich hinterher "aufgewühlt". Denn die Bahn hatte zwar verkündet: "Sie können so viele Fragen stellen, wie Sie möchten" - aber nur per Chat, und jeweils auf 200 Zeichen pro Frage begrenzt.
Nach der DB-Präsentation "gingen rund 220 konkrete Fragen ein, von denen rund die Hälfte während der Veranstaltung thematisch/inhaltlich beantwortet wurden", erklärt ein DB-Sprecher auf Nachfrage. Bei Kröner hört sich das anders an: "Der Moderator von einer Konflikt- und Prozessmanagementfirma ließ nur ausgewählte Fragen zu." Und nicht alle Antworten seien befriedigend gewesen.
Klar ist laut Kurt Kröner geworden: Die Zulieferung von Teilen zum ICE-Werk würde per Lkw erfolgen, nicht per Schiene. Und: Es könne zu Enteignung kommen, wenn die Grundstückseigner nicht verkaufen wollten. Für das wohl größte Hindernis auf dem laut Bahn 3.200 Meter langen und 450 Meter breiten Gelände habe die DB jedoch eine Lösung präsentiert: "Die Bundesstraße B14 würde untertunnelt." Unklar geblieben seien aber beispielsweise Wasser- und Abwassermengen. Hier verspricht der DB-Sprecher jedoch: "Die übrigen Fragen werden ... in den nächsten Wochen auf der Projektwebsite beantwortet."
"Große" Politik interessiert sich
Eine Lösung hatten auch die Grünen Abgeordneten Barbara Fuchs und Uwe Kekeritz nicht dabei: Das Landtagsmitglied (MdL) aus Fürth und der Bundestagsabgeordnete (MdB) aus Uffenheim sahen sich am letzten Freitag die weite Fläche aus der Nähe an, die von der Bahn zwischen Raitersaich und Buchschwabach ins Planungsauge gefasst wurde.
Ohne einen einzelnen der neun von der Bahn genannten Werksstandorte im Blick zu haben, war für MdL Fuchs klar: "Es ist immer ein ganz großer Eingriff in die Natur." Doch es scheint, als könne sie sich ein ICE-Werk am ehesten auf oder neben dem ehemaligen Munitionslagergelände bei Feucht vorstellen.
Das sieht der parteilose Bürgermeister dieser Marktgemeinde völlig anders. "Das ICE-Werk ist an dieser Stelle nicht denkbar und schwer zu vermitteln", erklärt Jörg Kotzur auf Nachfrage, "denn es müssten die vorhandenen 188 ha Bannwald gerodet werden, die uns als grüne Lunge dienen. Die seien zudem "aufgrund des Betretungsverbots unberührtes Waldgebiet europäisches Schutzgebiet Natura2000" mit praktisch nicht wiederherstellbarer biologischer Vielfalt. Am Mittwoch dieser Woche hat deshalb der Gemeinderat mit großer Mehrheit gegen das Projekt gestimmt. Und im Landkreis Roth, auf dessen Gebiet das an Feucht anschließende Gelände und ein weiteres bei Allersberg liegt, will sich demnächst der Kreistag mit den ICE-Werks-Ideen beschäftigen.
Liegen die Streitgründe ganz woanders?
Aber ganz allgemein steht für die Grüne Barbara Fuchs fest: "Dass jetzt die Gesellschaft den Konflikt austragen muss, ein Standort gegen den anderen, hat ihre Wurzeln in der Privatisierung der Bahn." Denn damit die DB zur AG werden konnte, habe sie sehr viele Grundstücke teuer verkauft, "es wurde einfach nicht langfristig geplant". Ohnehin sind aus Fuchs` Sicht Infrastrukturen wie Wasser, Stromleitungen oder eben die Bahn "Daseinsvorsorge und gehören in Öffentliche Hände".
Die Grünen seien aber keine Totalverweigerer der notwendigen Verkehrswende, ergänzte Kamran Salimi: Die Mitglieder seiner Partei im Fürther Stadtrat wäre - anders als der dortige SPD-OB Thomas Jung - sehr wohl für einen ICE-Werk-Standort im Stadtteil Burgfarrnbach offen gewesen, erklärte der Fraktionsvorsitzende: "Dort ist ja schon viel Industrie."
MdB Kekeritz wiederum sieht grundlegende Fehler bei der DB-Planung: "Warum braucht man eigentlich eine Wendeschleife? Der ICE kann in zwei Richtungen fahren. Wahrscheinlich hat die Bahn null Bock, eine neue Planung zu bezahlen, weil das Design der Schleifenlösung schon finanziert wurde."
Dabei denken die Raitersaicher beim Protest gegen das ICE-Werk nicht nur an ihren eigenen Ortsteil. Gerade wurden überall Plakate aufgehängt. Auf denen erklären sie genauso ihr "Nein" zu den von der DB ebenfalls ins Auge gefassten Flächen in Müncherlbach und Heilsbronn im Nachbarlandkreis Ansbach. Für diese beiden Standorte hat die Bahn bereits einen gemeinsamen "Dialog-Termin" festgelegt: Der läuft am 29. Juni ab 18:30 Uhr Online.
Erst am 1. Juli, steht der Termin zum belasteten Muna-Gelände Feucht als letzter auf der DB-Liste. Wer will, kann an diesem genauso wie am 14. Juni ab 18:30 Uhr beim Online-Dialog zu den Plänen in Nürnberg-Altenfurt/Fischbach oder am 17. Juni zur selben Zeit zu jenem für Allersberg/Pyrbaum dabei sein. Nur Anmeldung ist für die DB-Dialoge Pflicht. Außerdem tauschen sich am 16. Juni Bayerns Bahnverantwortliche im Parlament mit Landtagsabgeordneten aus.
Auf jeden Fall warnt schon einmal Eisenbahngewerkschafter Birkmann vor möglichen Konsequenzen: Wenn die Franken ihre "Gegenrede" nicht bald einstellen, werde das ICE-Werk mit 700 neuen Arbeitsplätzen und 1.000 bei Zulieferern ganz woanders entstehen. Gebraucht wird ein solches Werk auf alle Fälle. Ob aber nicht an anderen Orten ähnliche Diskussionen zu erwarten sind?
PS: Die Gewerkschaft EVG hat dazu eine "Nürnberger Erklärung" veröffentlicht, die gibt es hier als Download.