28.10.2022
Energiecharta: Ein Ausstieg aus der Paralleljustiz ist möglich
Ein Bericht von Tatiana Abarzúa
Was haben die spanische Ministerin für den ökologischen Übergang, Teresa Ribera, und der niederländische Minister für Klima- und Energiepolitik, Rob Jetten, gemeinsam? Beide haben mitgeteilt, dass ihre Regierungen aus dem internationalen Vertrag Energiecharta aussteigen werden. Das Hauptargument: die Energiecharta stehe im Widerspruch zu den Verpflichtungen des Pariser Klimaabkommens. Auch Polen, Frankreich und Slowenien haben ähnliche Entscheidungen getroffen. Worum geht es dabei?
Anfang des Jahres hat die slowenische Regierung ihre Bergbauvorschriften geändert und Fracking erlaubt. Im Osten Sloweniens, im Petišovci-Gasfeld, plant ein britisches Unternehmen Gas durch Fracking zu gewinnen. Die Fracking-Erlaubnis steht im direkten Zusammenhang mit einer Klage dieses Unternehmens, Ascent Resources, gegen die slowenische Regierung, die der Konzern in einem privaten Schlichtungsverfahren gemäß Energiecharta eingereicht hat. Zuvor hatte die Regierung als Auflage für eine mögliche Genehmigung des Vorhabens, die Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) gefordert, wie Friends of the Earth Europe berichtet. Deshalb warnt die Organisation, dass „Unternehmen Ansprüche aus dem Streitbeilegungsverfahren zwischen Investor und Staat (ISDS) nutzen, um unverschämte Entschädigungen zu erhalten und Regierungen unter Druck zu setzen, Umwelt- und Klimapolitiken und Schutzmaßnahmen aufzuheben oder zurückzuziehen“. Der Betrag, den Ascent Resources als Entschädigung fordert, beläuft sich auf 500 Millionen Euro.
Auch die Klage von RWE gegen den niederländischen Staat ist noch anhängig: Das Unternehmen klagte vor dem internationalen Zentrum zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten der Weltbank (ICSID) gegen den für 2030 geplanten Kohleausstieg in den Niederlanden, bei dem eine Verkürzung der Laufzeit der Kraftwerke vorgesehen ist.
Was bewirkt die Energiecharta konkret?
1994, in Lissabon, unterzeichneten 51 Länder die Energiecharta (Energy Charter Treaty, ECT). 1998 trat das Vertragswerk in Kraft. Es zielte ursprünglich darauf ab, in mittel- und osteuropäischen Ländern und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion im Energiesektor „ausländische Investitionen gegen staatliche Eingriffe" zu sichern (die DGS-News berichteten). Eine Verschlechterung von Investitionsbedingungen gilt laut ECT als enteignete Investition. Eine Besonderheit dieses Abkommens sind Klageverfahren mittels privater „Streitbeilegung“: Investor-Staat-Streitbeilegung (Investor-State Dispute Settlement, ISDS). Die Energiecharta ist „der erste multilaterale Vertrag, der generell eine bindende internationale Beilegung von Streitigkeiten vorsieht“, wie der Wissenschaftliche Dienstes des Deutschen Bundestages festgestellt hat. Auf Grundlage der ECT-Bestimmungen für die Streitbeilegung haben international tätige Konzerne sehr hohe Schadensersatzzahlungen von Staaten verlangt. Zwischenzeitlich hat sich die Anzahl an Klageverfahren nach Angaben des Sekretariats der Energiecharta auf 150 erhöht. Ein aktuelles Beispiel ist die erfolgreiche Klage des britischen Öl- und Gasunternehmens Rockhopper: Italien wurde von einem privaten Schiedsgericht zur Zahlung von 190 Millionen Euro plus Zinsen verurteilt. Das ist für Italien bindend, obwohl es bereits aus dem Vertrag ausgetreten ist, da Investitionen bis zu zwanzig Jahre lang nach dem Austritt aus dem ECT Gegenstand eines Anspruchs für ISDS-Klagen sein können.
Heute ist allgemein bekannt, dass Energiekonzerne wie Exxon bereits Ende der 1970er Jahren des Klimawandels bewusst waren. Ein Artikel von Scientific American fasst das Wissen, die bewusste Desinformation und das Ausbremsen von Klimaschutzmaßnahmen seitens Exxon sehr gut zusammen: 1978 warnte der leitende Wissenschaftler James Black Exxon, dass eine Verdoppelung der Konzentration von CO2 in der Atmosphäre die mittlere globale Temperatur um zwei oder drei Grad erhöhen würde. Eine Prognose, die mit dem heutigen wissenschaftlichen Konsens übereinstimmt. Zehn Jahre später, bei einer Anhörung im US-Kongress, sagte der NASA-Wissenschaftler James Hansen, dass sich der Planet bereits erwärmt. Dennoch behauptete Exxon öffentlich, davon überzeugt zu sein, der Klimawandel sei wissenschaftlich noch umstritten. Der Konzern organisierte Kampagnen, die die wissenschaftliche Grundlage in Frage stellten, und machte Druck auf die USA gegen das Kyoto-Protokoll (ein Vertrag über völkerrechtlich verbindliche Minderungsziele für CO2, CH4, HFCs, PFCs, N2O, SF6). Die USA hatten das Protokoll zwar 1998 unterzeichnet, jedoch nicht ratifiziert, und traten drei Jahre später ganz aus dem Abkommen aus.
Wieso das uns alle tangiert? Laut Scientific American wurde die Hälfte der Treibhausgasemissionen in der Atmosphäre nach 1988 freigesetzt. Und, Kraft Energiecharta, können Unternehmen, die solche Treibhausgasemissionen verursachen, seit 1998 bei jeglichen Änderungen der Klimaschutzgesetzgebung Ansprüche für ISDS-Klagen gegenüber privaten Schiedsgerichten geltend machen und Staaten anklagen, oder damit drohen zu klagen.
Wird die Paralleljustiz beendet?
Vergangenes Jahr hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) zwar entschieden, dass ECT-Schiedsverfahren nicht mit EU-Recht vereinbar sind und dieses Abkommen deshalb nicht in Gerichtsverfahren zwischen EU-Ländern verwendet werden kann. Allerdings legen die Schiedsgerichte die Relevanz der Entscheidung des EuGH anders aus: Verfahren werden zum Teil weitergeführt, mit der Argumentation, dass das EU-Recht der Anwendung des Energiecharta-Vertrags nicht entgegen stehe (die DGS-News berichteten).
Bis zum nächsten Treffen der Mitglieder auf der Energiecharta-Konferenz, am 22. November, in der Mongolei, könnten noch mehrere Länder dem Beispiel Italiens, Spaniens, Polens, Frankreichs, Slowenien folgen. Bei Mitteilung eines Austritts aus der Energiecharta bis zum 01. Januar 2023, wird dieser ein Jahr später wirksam, also zum 01. Januar 2024. Die 20-Jahre-Klausel würde entsprechend bis zum 01. Januar 2044 gelten. Sollten sich alle 27 Mitgliedstaaten und die EU für einen gleichzeitigen Austritt entscheiden, so könnten sie in einem gemeinsamen Austrittsvertrag die Anwendung der 20-Jahre-Klausel innerhalb der EU ausschließen.