19.03.2021
Den Elefanten im Raum benennen: ECT
Eine kommentierte Analyse von Tatiana Abarzúa
Der Vertrag über die Energiecharta (Energy Charter Treaty, ECT) ist ein offensichtliches Problem - ergo: der Elefant im Raum - da er authentische Klimaschutzmaßnahmen untergräbt.
Der Vertrag über die Energiecharta ist ein multilaterales rechtsverbindliches Abkommen, es wurde 1994 in Lissabon von 51 Ländern unterzeichnet und trat 1998 in Kraft. Auch die Europäische Gemeinschaft und ihre Mitgliedstaaten unterzeichneten es, sowie EURATOM - eine Organisation dessen Auflösung zahlreiche Umweltverbände fordern. Der Vertrag verbindet Elemente, die an internationale Handelsabkommen wie das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (GATT) angelehnt sind, welches 1995 durch die WTO abgelöst wurde, und an bilaterale oder multilaterale Übereinkommen über Investitionsschutz. Als der ECT in den 90er Jahren ausgehandelt wurde, zielte er darauf ab, in mittel- und osteuropäischen Ländern und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion im Energiesektor "ausländische Investitionen gegen staatliche Eingriffe" zu sichern.
Der somit garantierte hohe Investitionsschutz "für Wirtschaftstätigkeiten" beinhaltet unter anderem die Erschließung und Nutzung von Öl- und Gasvorkommen in diesen Ländern und auch Raffination, Lagerung, Beförderung auf dem Landweg, Versorgung, Vermarktung, Verkauf, Bau von Energieanlagen sowie Beratung und Management. Nach Angaben des Wissenschaftlichen Dienstes (WD) des Deutschen Bundestages ist der ECT unter anderem der erste multilaterale Vertrag, der generell eine bindende internationale Beilegung von Streitigkeiten vorsieht". International tätige Konzerne haben bislang auf Grundlage der ECT-Bestimmungen für die Streitbeilegung sehr hohe Schadensersatzzahlungen verlangt. Dennoch vertrat der WD 2009 die Auffassung, dass es nicht dem Sinn und Zweck internationaler Investitionsabkommen entspreche, eine legitime staatliche Regulierung zu unterbinden. Wenn Regierungen Regelungen so ändern, dass sich Bedingungen für Investitionen verschlechtern, wurde das bisher jedoch als Enteignung betrachtet. Auch wenn es Regelungen sind, die demokratisch beschlossen wurden und dem Gemeinwohl dienen. Sehr bekannt ist eine Streitigkeit vor dem Washingtoner Schiedsgericht für Investitionsstreitigkeiten (International Centre for Settlement of Investment Disputes, ICSID), der erste Fall von "Vattenfall gegen Bundesrepublik Deutschland". Das schwedische Unternehmen klagte auf Schadensersatz in Höhe von 1,4 Mrd. Euro, da die Stadt Hamburg im Jahr 2008 Umweltschutzauflagen im Rahmen der Genehmigung für das geplante Kohlekraftwerk Moorburg verschärfte. Das Verfahren "endete in einem Vergleich, wobei die Höhe des zugesprochenen Schadensersatzes nicht veröffentlicht wurde", und die Auflagen wurden abgeschwächt. Das scheint gar nicht so selten der Fall zu sein, dass Vergleiche dazu führen, dass Umweltstandards abgeschwächt oder Genehmigungen durchgesetzt werden.
Der ECT verleiht Energiekonzernen eine sehr günstige Verhandlungsposition, da allein die Vorstellung, zur Zahlung einer Entschädigung verpflichtet zu werden, Regierungsvertreter davon abhält, Umweltstandards zu verbessern oder Klimaschutzmaßnahmen durchzuführen. Diese Konstellation wird oft als regularory chill bezeichnet: eine ordnungspolitische Abkühlung. Ein Beispiel dafür ist der Fall des kanadischen Konzerns Vermilion. 2017 hatte der damalige französische Umweltminister Nicolas Hulot einen Gesetzesentwurf vorgestellt, der die Verlängerung bestehender Konzessionen für Erdgas oder Erdöl beschränken und allmählich auslaufen lassen sollte. Außerdem sollten keine neuen Genehmigungen für Projekte ausgestellt werden. Daraufhin beauftragte Vermilion eine Anwaltskanzlei damit, dem französischen Staat mit einer Klage vor ISDS-Gerichten zu drohen. Die Regierenden fühlten sich unter Druck gesetzt und schwächten den Gesetzesentwurf ab. Die Vermutung liegt auf der Hand, dass auch die Verzögerung des Kohleausstiegs in Deutschland bis zum Jahr 2038 und die damit verbundenen enormen Ausgleichszahlungen mit der starken Verhandlungsposition der Energiekonzerne in Verbindung stehen. Auch die aktuelle Einigung zwischen der Bundesregierung und Vattenfall - und den anderen Energieversorgungsunternehmen EnBW, Eon/PreussenElektra und RWE - in Bezug auf einen finanziellen Ausgleich und Beilegung aller Rechtsstreitigkeiten zum Atomausstieg, inklusiv Rechtsmittelverzicht seitens der EVU, spricht für die lohnende Verhandlungsposition, die das ECT den Energiekonzernen ermöglicht. Vattenfall hatte die Bundesregierung seit 2012 auf 4,7 Mrd. Euro plus Zinsen verklagt, insgesamt ging es um bis zu 7 Mrd. Euro. Nach Angaben des BMWi soll die endgültige Regelung durch ein Gesetz des Deutschen Bundestages erfolgen, dem 18. Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes, vorbehaltlich der beihilferechtlichen Prüfung durch die Europäische Kommission. Ein weiteres Indiz dafür, dass der Vertrag über die Energiecharta ein machtvolles Instrument für Energiekonzerne ist, um Klimaschutz zu verhindern, ist die Nachwirkungsklausel. Denn der ECT enthält eine Klausel, die bestehende Investitionen bis zu 20 Jahre nach dem Austritt eines Staates noch unter Schutz stellt - die "Zombieklausel".
Seit Juli 2020 wird innerhalb der Europäischen Union über eine "Modernisierung" des Vertrags über die Energiecharta diskutiert. Allerdings müssen für die Annahme von Änderungen alle Mitglieder zustimmen, was schwer zu erreichen ist. Dennoch gibt es auch andere Möglichkeiten, wie eine einseitige Kündigung des Vertrages. Italien hat sich dazu bereits vor mehreren Jahren entschieden, weitere Staaten könnten folgen. Erfreulicherweise wird die Problematik des Energiecharta-Vertrages von einigen Menschen angeprochen, der Elefant im Raum also wahrgenommen. Beispielsweise hat die Französin Yamina Saheb beim Europäischen Parlament eine Petition eingereicht, die bisher rund 500 Unterstützer gefunden hat. Darin fordert Saheb, dass das vorgeschlagene Europäische Klimagesetz um Bestimmungen zur Beendigung des Schutzes ausländischer Investitionen in fossile Brennstoffe ergänzt wird.
Dennoch: Da ein sehr großer Teil der bislang über den Energiecharta-Vertrag abgesicherten Investitionen von Unternehmen aus einem EU-Staat in einem anderen EU-Staat getätigt wurden, liegt eine andere Ausstiegsmöglichkeit aus dem ECT auf der Hand. Sollten sich alle 27 Mitgliedstaaten und die EU für einen gleichzeitigen Austritt entscheiden, so könnten sie in einem gemeinsamen Austrittsvertrag die Anwendung der 20-Jahre-Klausel innerhalb der EU ausschließen. Das würde Handlungsspielraum für echte Klimaschutzmaßnahmen bedeuten, was angesichts der Klimakrise dringend erforderlich ist. Mindestens eine Million Menschen haben bereits innerhalb von etwa zwei Wochen die EU-Kommission und die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten aufgefordert, den Vertrag über die Energiecharta zu verlassen. Die Petition, die sie mitgezeichnet haben, wird nach Angaben des Umweltinstituts München von einem Bündnis aus 30 Organisationen aus neun europäischen Ländern durchgeführt.
Eine Entscheidung für einen Ausstieg aus dem ECT wäre auch ein Zeichen der Zeit. Denn die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts können nur gelöst werden, wenn die Staaten und ihre Bürgerinnen und Bürger nicht mehr an veralteten Verträgen aus dem 20. Jahrhundert geknebelt sind. Für konsequenten Klimaschutz reicht das Pariser Klimaschutzabkommen allein nicht.