04.12.2020
Gewitterenergie nutzen I.
Ein Bericht von Götz Warnke
Gewitter mit ihren optischen und akustischen Emissionen haben die Menschheit seit jeher fasziniert und geängstigt. Insbesondere die Blitze, welche Berggipfel zerstören, Bäume spalten und Lebewesen töten konnten, ließen die Menschen erahnen, dass hier übermenschliche Kräfte am Werk waren. Insofern wurden Gewitter über lange Zeiträume der Sphäre von Göttern und Geistern zugeordnet, die mit ihrer Hilfe den Menschen gegenüber ihren Unmut kundtaten.
Dies änderte sich erst, als in den 1730er und insbesondere 1740er Jahren die physikalischen Vorführungen und Experimente mit Elektrisiermaschinen Verbreitung fanden. Die dabei entstehenden Funken und kleinen Blitze ließen die Forscher schnell eine gedankliche Verbindung zu den großen Gewitterblitzen ziehen, die man zu nutzen gedachte. Zuerst machte 1752 Thomas François Dalibard ein erfolgreiches Experiment in Marly-la-Ville/Frankreich mit einer isolierten, ca. 12 m langen Eisenstange; dann folgte nur einen Monat später Benjamin Franklin mit einem ähnlichen Experiment, bei dem er einen Drachen mit angefeuchteter Schnur in eine Gewitterwolke steigen ließ. Doch schon ein Jahr später war es mit allen Experimenten wieder vorbei: im Juli 1753 verunglückte Georg Wilhelm Richmann, Physikprofessor an der renommierten St. Petersburger Akademie der Wissenschaften, bei Gewitterexperimenten tödlich. Was blieb, war die Erfindung des Blitzableiters.
Gewitterexperimente standen und stehen vor verschiedenen Herausforderungen. Eine davon ist, dass es verschiedenen Typen von Gewittern gibt:
- Luftmassen- bzw. Wärmegewitter: hier besteht eine große horizontale Temperaturdifferenz zwischen den warmen, sehr feuchten Luftmassen über dem Erdboden und den kalten Luftschichten in größerer Höhe. Wenn die Sonne die Bodenluft weiter aufheizt, steigt diese auf, kann aber mit zunehmender Kälte in der Höhe die Feuchtigkeit nicht mehr halten, was die Gewitterentwicklung in Gang setzt.
- Frontgewitter: hier treffen eine Kaltfront und eine mit Wasserdampf gesättigte Warmfront aufeinander. Die dichtere Kaltluft schiebt sich dabei unter warme Luft und zwingt diese zum Aufsteigen. Ab einer gewissen Höhe und Kälte kondensiert der Wasserdampf in der einstmals warmen Luft, und die Gewitterentwicklung beginnt.
- Orographische Gewitter: sie entstehen an Bergen und Gebirgen, wenn der Wind die feuchte Warmluft der Ebene die Berghänge hinauftreibt, so dass der Wasserdampf in der Höhe kondensiert und Eiskristalle bildet.
Während Frontgewitter überall, auch über dem Meer entstehen, und Wärmegewitter sich besonders oft in den Tropen bilden, häufen sich orographische Gewitter, wie schon geschrieben, an Gebirgen - in Europa vor allem am Südrand der Pyrenäen und Alpen. Wichtig sind immer Temperaturunterschiede und Feuchtigkeit. Denn diese Feuchtigkeit kondensiert in der Höhe zu Eiskristallen, die wiederum sinken, um dann erneut von nachströmender Warmluft in die Höhe gerissen zu werden. Dabei entsteht eine zunehmende Ladungstrennung. Die dann folgenden Blitze sind der konzentrierte elektrische Potenzialausgleich.
Daher ist es verständlich, dass man eine solche blitzhöffige Gegend für die erste großtechnische Nutzung der Gewitterenergie auswählte. 1927 errichteten die drei Berliner Physiker Arno Brasch, Fritz Lange und Kurt Urban aus dem Kreis des deutschen Nobelpreisträgers Walther Nernst eine physikalische Anlage auf dem 1.700 m hohen Monte Generoso im Schweizer Tessin, der blitzhöffigsten Gegend in Europa. Die Anlage sollte dazu dienen, die hohen Energien von Gewittern "einzusammeln", um sie dann dort für Experimente zur Atomspaltung zu nutzen.
Die Wissenschaftler vom Physikalischen Institut der Universität Berlin beaufsichtigten die Errichtung einer Riesenantenne: zwischen zwei Gipfeln und 80 m über dem Boden hing ein 660 m langes* bzw. 760 m langes Stahlkabel**, an dessen beiden Enden sich jeweils 25 m lange Steatit-Isolatorenketten mit einem Einzelgewicht von 24 Tonnen befanden. Diese Isolatoren waren für Spannungen von 2,5 bis 3 Millionen Volt ausgelegt. An dem Stahlkabel wiederum hing eine "Antenne" in Form eines 400 qm großen Drahtgeflecht, das mit Spitzen/Spikes zur besseren Aufnahme der atmosphärischen Elektrizität versehen war. Unter der Isolatorenkette befand sich wiederum die Funkenstrecke zur Nutzung der Blitze für die Experimente. Zur Anlage gehörte ebenfalls eine Art "Bunker" mit einem Faraday'schen Käfig für die Forscher.
Zwar wurden die Erwartungen der Forscher deutlich übertroffen - die Anlage erzielte Spannungen von bis zu 16 Millionen Volt und Schlagweiten von über 18 m (S. 204) - , doch das führte auch zu technischen Problemen und Materialermüdungen. Zudem stürzte der Physiker Kurt Urban am 20.08.1928 tödlich ab, und eine Atomzertrümmerung gelang mit dieser Konstruktion nicht. 1931 wurde die Anlage aufgegeben und schon bald vergessen, wozu auch die ab 1929 einsetzende Weltwirtschaftskrise und später der Nationalsozialismus beigetragen haben dürften.
Was als Eindruck des Projekts bleibt, ist der ungeheure technische Aufwand, der zur Nutzung der Gewitterenergie eingesetzt wurde. War das für diese Energieform bereits der Anfang und das Ende zugleich?
Nächste Woche: Gewitterenergie nutzen II.: Bedenken, Fortschritte, Visionen
Für Für die wertvolle Unterstützung bei meinen Recherchen zum Monte Generoso danke ich Frau Dr. Rachele Delucchi sowie Herrn Professor Dr. David Gugerli, Professur für Technikgeschichte der ETH Zürich.
* "Der gebändigte Blitz", in: Neue Züricher Nachrichten, 27. Juli 1929
** Alfr. Gradenwitz: "Le esperienze sulle alte tensioni elettriche al Monte Generoso", in: Gazzetta Ticinese, 12.04.1928