09.08.2019
Stromnetzausbau auf fragwürdiger Datenbasis
Der Entwurf des Netzentwicklungsplan zum Stromnetz der Zukunft wurde von der Bundesnetzagentur geprüft und nun bis Oktober zur öffentlichen Konsultation gestellt. Zahlreiche vorgeschlagene Maßnahmen der Netzbetreiber werden von der Behörde derzeit als nicht bestätigungsfähig eingestuft. Die Stromversorgung wird bei uns stabil bleiben, doch ob die geplanten Trassen notwendig sind, bleibt weiter umstritten.
Im April dieses Jahres haben wir an dieser Stelle über den 2. Entwurf des Netzentwicklungsplans für das deutsche Stromnetz 2030 berichtet. Auf Basis eines Szenariorahmens wurde das Stromnetz simuliert – und die vier großen Übertragungsnetzbetreiber haben dazu Anfang 2019 den 2. Entwurf des Netzentwicklungsplans erstellt, der von der Bundesnetzagentur geprüft wird und jetzt öffentlich bis Oktober diskutiert werden kann. Die großen Netzbetreiber haben darin beschrieben, welche Neubau- und Ausbauvorschläge aus deren Sicht bis 2030 notwendig sind: „Der NEP enthält die notwendigen Maßnahmen zur bedarfsgerechten Optimierung, Verstärkung und zum Ausbau des Stromnetzes“, so die Netzbetreiber. Umso erstaunlicher ist, dass die Bundesnetzagentur bei Ihrer aktuellen Prüfung nun 68 (!) von 164 vorgeschlagenen Maßnahmen abgelehnt hat.
Wie belastbar sind die Grundlagen?
Zuerst stellt sich die Frage, wie belastbar eigentlich der Szenariorahmen ist, auf dem die Planung beruht. Ein Blick auf die Zahlen aus unserem Metier: Eine Steigerung bei PV von 42 GW (2017) auf zwischen 73 und 105 GW (2030) ist dort angesetzt, Wind Onshore soll von 51 GW (2017) auf 74 bis 91 GW (2030) wachsen. Legt man die Steigerung linear auf die Jahre 2018 bis 2030 um, ergibt sich eine jährliche Plan-Neuinstallation von 1,7 bis 5 GW bei PV und 1,9 bis 3,3 GW bei Wind Onshore. Der PV-Zubau liegt derzeit bei rund 3 GW, also ungefähr in der Mitte der Bandbreite. Jedoch: Das Szenario C, das auch den Kohleausstieg nach Kohlekommissionsergebnis beschreibt, geht von 105 GW PV aus, also einem Zubau von 5 GW pro Jahr. Und: Der Wind Onshore-Ausbau in Deutschland liegt derzeit am Boden: Im 1. Halbjahr 2019 wurden gerade einmal 0,3 GW neu installiert. Fazit: Schon der im Szenariorahmen angesetzte Ausbau der Erneuerbaren Energien ist derzeit mehr als fraglich, obgleich auch der Ausbau im ambitionierten Szenario C noch immer nicht mit den Pariser Klimazielen vereinbar ist, sondern noch dahinter zurückbleibt.
In anderen Bereichen sieht es nicht besser aus: Für Power-to-X-Anlagen wurde Ende 2017 ein Gutachten verfasst, das für den Szenariorahmen 1 bis 2 GW Power-to-Gas (2030) vorschlägt. Doch das ist auch längst überholt: Anfang dieses Jahres (die DGS-News berichteten) wurden einzelne PtG-Projekte mit über 100 MW angekündigt. Der Gesamtausbau dürfte daher weit über der Annahme liegen. Auch der Ansatz des Stromverbrauchs bis 2030 erstaunt: Es soll je nach Szenario gleichbleiben oder sinken, so als ob es keine Sektorenkopplung oder den Ausbau von Wärmepumpen und Elektromobilität gäbe.
Wie prüft die BNetzA die Maßnahmen?
Ein Blick auf die Details zeigt, dass die BNetzA vor allem bei der Verstärkung der Wechselstromnetze den Rotstift angesetzt hat: Dort wurden von 5.800km rund 2.100 km abgelehnt. Auch beim DC-Neubau wurden 450 km gestrichen und damit eine 4. Stromautobahn von Norden nicht bis nach Baden-Württemberg, sondern nur bis NRW als sinnvoll angesehen. Drei wichtige Faktoren werden in der Bewertung der Bundesnetzagentur geprüft: Zum einen der Nutzen für die Sicherheit des Stromnetzes. Hierfür wird auch die Leitungsbelastung im Sicherheitsfall (n-1), also z.B. bei Ausfall einer Parallelleitung berechnet. Zum zweiten wird die Wirtschaftlichkeit betrachtet, einbezogen werden hier auch vermiedene Redispatch- und Verlustkosten. Als drittes Kriterium wird die Klimaförderlichkeit geprüft, d.h. welche Abregelung z.B. von Windanlagen durch die Maßnahme vermieden wird und welche CO2-Einsparung so erzielt werden kann.
Wie dezentral wird das Stromnetz hier betrachtet?
Kurz gesprochen: Gar nicht. Es geht beim Netzentwicklungsplan um die Blickweise der Übertragungsnetzbetreiber, was in den Verteilnetzen geschieht, spielt hier keine Rolle, obwohl ja gerade dort die Energiewende umgesetzt wird und Bedarf und Erzeugung oft schon hier in Einklang gebracht werden könn(t)en. Bereits von vier Jahren hat die Energietechnische Gesellschaft (ETG) im VDE ihr Konzept des „zellulären Ansatzes“ veröffentlicht (die DGS-News berichteten), dabei wird ein Gleichgewicht zwischen lokaler Erzeugung und Verbrauch auf der niedrigsten machbaren Ebene angestrebt. Gezielter Ausbau der Erneuerbaren Energien und Power-to-X-Techniken sowie Speicher führen dabei zu einem stabilen regionalen Versorgungskonzept, eine Simulation der ETG ergab einen Stromtransportbedarf, der um die Hälfte reduziert ist. Die ÜNBs ignorieren das bis heute jedoch völlig. Im Gegenteil: Flexibilitätsoptionen wie Speicher oder Power-to-X werden noch immer doppelt in die Netzplanung einbezogen: Einmal als Verbraucher, einmal als Erzeuger.
Brauchen wir eine 4. Stromautobahn?
Für die 4. Stromautobahn sagt die BNetzA: Jein. Der Bedarf eines Ausbaus – vor allem zur Ableitung von Windkraftstrom - zwischen Schleswig-Holstein über Niedersachsen nach NRW wird gesehen, nicht jedoch der Bedarf, diese Strecke weiter bis nach Baden-Württemberg zu verlängern. Ausgerechnet bei dieser Ablehnung hält die Bundesnetzagentur in der aktuellen Veröffentlichung jedoch keine der oben erläuterten Faktoren für erwähnenswert. Die Anwendung des oben genannten zellulären Konzeptes und die Umsetzung einer dezentralen Energiewende könnten auch diese 4. Stromautobahn überflüssig machen – mit dem gleichen Argument wird ja bereits an vielen Stellen im Land gegen den Ausbau der anderen großen Stromtrassen gekämpft.
Reaktionen
In Hinblick auf den Entfall der 4. Stromautobahn in den Süden ist sogar Umweltminister Franz Untersteller aus Baden-Württemberg zufrieden: „Das bestätigt unsere Auffassung, für die wir uns in den letzten Monaten stark gemacht haben“, so der Minister, „wir können und wir sollten vielmehr bestehende Planungen optimieren“.
Simone Peter vom Bundesverband Erneuerbare Energien (BEE) kritisiert dagegen die Streichungspläne der BNetzA als „kontraproduktiv für die Energiewende“. Hatte doch die gleiche Behörde tags zuvor verkündet, in einigen Bundesländern den Aufbaudeckel für Windenergie zu verschärfen. Begründung dafür: Zu wenig Netzkapazität. „Einerseits die Kapazität der zukünftigen Netze zu reduzieren und andererseits den erneuerbaren-Ausbau mit Verweis auf zu geringe Netzkapazitäten zu deckeln, passt hinten und vorne nicht zusammen“, so Peter
Fazit
Die Bundesnetzagentur sollte ein Mengengerüst für den Ausbau der Erneuerbaren-Energien erstellen, das 100%-kompatibel zu den Zielen des Pariser Klimaabkommens ist. Politisch müsste gegengesteuert werden, damit sichergestellt wird, dass ein zügiger Ausbau vor allem beim Wind auch in NRW, Bayern und Baden-Württemberg erfolgt. Dann könnte mit diesen Parametern unter Berücksichtigung des zellulären Ansatzes des VDE die Netzlasten neu berechnet werden. Das Ergebnis können wir vorwegnehmen: Es würde noch weniger Netzausbau benötigt. Und der Stromkunde könnte sich bedanken, denn es würden nicht nur die Klimaziele ernsthaft in Angriff genommen, sondern auch die Stromkosten in Milliardenhöhe entlastet. Es bleibt zu hoffen, dass solche Gedanken in den weiteren Konsultationsprozess eingebracht werden.
Ausführliche Informationen zum Netzentwicklungsplan finden sich hier
Jörg Sutter