04.08.2023
War der Atomausstieg verfrüht?
Ein Meinungsbeitrag von Götz Warnke
Berlin Frühjahr 1939: Der Britische Militärattache Mason MacFarlane hat Informationen bekommen, dass Hitler plant Polen anzugreifen. Damit ist für ihn klar, dass der deutsche Diktator ein hemmungsloser Imperialist ist, der keinen Frieden geben wird. MacFarlane plant daher, Hitler zu erschießen. Die Möglichkeit dazu hat er: Er ist ein exzellenter Scharfschütze, und die Führertribüne, von der Hitler alljährlich am 20. April die Parade zu Ehren seines Geburtstags abnimmt, liegt sichtbar in guter Schussweite aus dem Badezimmer von MacFarlanes Wohnung. Also bittet er seine Vorgesetzten in London um Genehmigung für das Attentat.
Dort im Foreign Office und im Cabinet Office sind sie mehr als kritisch: zum einen ist es nicht sicher, ob Hitler nicht doch nur einer dieser Nationalisten ist, die trotz des – für ein Industrieland absurden – Lebensraum-im-Osten-Geschwurbels Ruhe geben werden, wenn sie alle Deutschen „heim ins Reich“ geholt haben. Zum anderen würde sich nach dem Attentat die Frage der Nachfolge stellen, und Figuren wie Goebbels, Himmler und Morphin-Göring gelten den Briten als noch problematischer als Hitler. Schließlich ist unklar, ob MacFarlane getäuscht wurde, aber es ist gewiss, dass es von deutscher Seite harte Reaktionen gegen das British Empire geben würde. Und: Britannien würde diplomatisch international zum Paria-Staat: viele Länder würden die diplomatischen Verbindungen kappen, und selbst in den anderen sähe sich jeder Gesandte zumindest unausgesprochen mit der Frage konfrontiert: „Kommen Sie als Diplomat oder als Killer?“
Alle Fakten vernünftig und sorgfältig abwägend entscheiden sich die britischen Ministerialen 1939 für das kleinere Übel, und verbieten das Attentat. Mit dem Wissen von 1945 wäre die Wahl des kleineren Übels sicher anders ausgefallen.
Bei allen größeren politischen Entscheidungen geht es um die Abwägung zwischen Erwartungen, Hoffnungen und Befürchtungen, und diese Abwägung findet – bestenfalls – unter Berücksichtigung des möglichst vollständigen Wissens zum jeweiligen Zeitpunkt statt. Das ist auch im Hinblick auf richtigen Zeitpunkt beim Atomausstieg nicht anders.
Ende März diesen Jahres sagte Hamburgs zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank (Grüne) auf dem Nachhaltigkeitsforum, dass der Ausstieg aus der Kernenergie nach Fukushima aus heutiger Sicht mit Blick auf den Klimaschutz möglicherweise ein Fehler gewesen sei. Natürlich gab es den erwartbaren Aufschrei ob dieser so politisch inkorrekten Äußerung sofort. Allerdings bleibt ja jenseits der Empörungskultur die berechtigte Frage, ob der Ausstiegszeitpunkt richtig gewählt war bzw. ob aus der richtigen Energietechnik ausgestiegen wurde.
Dazu kommt, dass Deutschland de facto dreimal aus der Atomenergie ausgestiegen ist.
1. Atomausstieg 2002
Die Rot-Grüne Bundesregierung einigte sich mit den vier deutschen AKW-Betreibern auf eine Gesamt-Restlaufzeit von rund 32 Jahren, die in Strommengen umgerechnet wurde, und so das endgültige Aus der Atomkraft für das Jahr 2022 festschrieb.
A) Aus der Perspektive 2002: Die völlig überzogenen Atomkraftpläne der Atombefürworter um Prof. Wolf Häfele einerseits, andererseits das Scheitern der Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf/Oberpfalz 1989 sowie der Schnellen Brüter Kalkar 1991 und Superphenix/Frankreich 1997, die für eine Atomwirtschaft unabdingbar waren, machten deutlich, dass ein hauptsächlich auf Atom setzendes Energiesystem nicht funktionieren konnte. Dazu kamen die weltweit begrenzten Uranvorräte, die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl 1986, welche auch Deutschland betraf, und der Aufstieg der Erneuerbaren Energien.
Insofern war der Ausstiegsbeschluss von 2002 vernünftig und sorgfältig abgewogen.
B) Aus heutiger Perspektive: Der Beschluss, dem deutschen Atomkraftwerkspark ein Schlussdatum zu setzen, resultiert aus dem vielfachen Scheitern der Atomindustrie vor dem Jahr 2000, und war daher folgerichtig. Das Problem der Erderhitzung war zwar bekannt, erschien aber allgemein nicht so drängend, zumal noch hinreichend Zeit für den Ausbau der Erneuerbaren Energien blieb. Allerdings wäre es sinnvoll gewesen, den Ausbau der Erneuerbaren durch gesetzliche Regelungen (Baugesetz, Recht auf eigene Energieerzeugung etc.) zu flankieren, wie es erst jetzt 20 Jahre später unter der Ampelregierung geschieht.
2. Atomausstieg 2011
Nachdem die CDU/FDP-Koalition unter Kanzlerin Merkel (CDU) im Herbst 2010 die Laufzeiten für die 17 AKW um bis zu 14 Jahre verlängert hatte, ruderte sie nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima im März 2011 schnell zurück: 8 ältere und problematische Reaktoren gingen bzw. blieben (Wartung) vom Netz, die restlichen 9, moderneren AKWs sollten Schritt für Schritt bis 2022 abgeschaltet werden.
A) Aus der Perspektive 2011: Die energiepolitische Situation hatte sich zwischen der Laufzeitverlängerung im Herbst 2010 und dem Ausstiegsbeschluss im Frühjahr 2011 nicht verändert; insofern war der Ausstieg der Angst der Bundeskanzlerin geschuldet, dass die Landtagswahl in Baden-Württemberg angesichts von Fukushima für die CDU verloren gehen könnte – was dann auch geschah. Die schnelle Abschaltung der alten, aus verschiedenen Gründen unsicheren Reaktoren war zweifellos richtig. Die hier dargestellte jeweilige „Mittlere Verfügbarkeit über Betriebszeitraum“ ist ja auch ein Ausweis über die Zuverlässigkeit von Reaktoren. Insbesondere das Aus für Krümmel, dem größten und für manche Experten gefährlichsten Siedewasserreaktors der Welt, war ein Sicherheitsgewinn. Daneben waren aber auch schon 2011 die zunehmenden Probleme der Klimakrise sichtbar.
Insofern war der Ausstiegsbeschluss von 2011 in Teilen richtig, aber nicht sorgfältig abgewogen.
B) Aus heutiger Perspektive: Heute wissen wir, dass die Kanzlerin damals keine echte Energiewende plante, sondern ein Umsteigen von Atom auf Gas, und ein Festhalten an der (Braun-)Kohle. Zugleich waren die vergangenen acht Jahre die wärmsten weltweit, und auch in Deutschland häufen sich in den letzten Dutzend Jahren die Rekorde.
Auch wenn es manchen altgedienten AKW-Gegnern schmerzt: Hamburgs zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank hat recht. Aus heutiger Perspektive hätten eher die Laufzeiten der Ende 2011 verbliebenen neun AKWs um jeweils ca. drei Jahre verlängert werden sollen, zügig aus der Braunkohle aussteigen, und die Erneuerbaren Energien entfesseln sollen. Immerhin kommen von den zehn klimaschädlichsten Kohlekraftwerken der Europäischen Union sechs aus Deutschland; unter den ersten fünf sind es sogar vier deutsche. Denn es ist nicht im Sinne der Klimagerechtigkeit, wenn wir hier alle – auch die Atomkraftgegner – gut von einer opulenten fossilen Energieerzeugung leben, mit deren Emissionen wir schon jetzt Menschen des Globalen Südens um Hab, Gut und Leben bringen. Es wäre nur gerecht gewesen, wenn wir zum Ausgleich für unseren Energieluxus noch einige Jahre länger unter dem Damoklesschwert einer Atomkatastrophe hätten leben müssen. Da helfen dann auch Argumentationen wie „Wohin dann mit dem Atommüll? nicht: der Baltische Schild, wo Schweden und Finnland ihre Endlager gebaut haben, ist seit 1,5 bis 2,5 Milliarden Jahren stabil – Halbwertzeiten von ein paar 100.000 Jahren spielen da keine Rolle.
3. Atomausstieg 15.04.2023
Nachdem Bundeskanzler Scholz im Oktober 2022 die Laufzeit der drei verbliebenen deutschen AKWs, die eigentlich zum Jahresende vom Netz gehen sollten, nochmals bis Mitte April 2023 verlängert hatte, gingen diese dann auch endgültig vom Netz – unter dem erwartbaren Protest der Atomkraftbefürworter.
A) Aus heutiger Perspektive: Die Entscheidung ist richtig. Die drei Reaktoren wurden in den vergangenen Jahren auf Verschleiß gefahren; ihre letzte große 10-Jahres-Revision war 2019, und es ist nicht klar, wann – und ob – sie nach einer jetzt nachgeholten Revision wieder ans Netz gehen könnten. Auch ist zweifelhaft, ob die Betreiber gewillt wären, die mit einer Laufzeitverlängerung verbundenen Kosten selbst zu tragen. Zudem haben die Atomkraftwerke gerade einmal vier Prozent zur deutschen Stromproduktion und nichts zur (Fern-)Wärmeproduktion beigetragen; bekanntermaßen hat Deutschland aber kein Stromproblem, sondern durch den Ausfall des russischen Erdgases ein Wärmeproblem. Auch sind die AKWs auf Uran aus Russland angewiesen, was alte Abhängigkeiten verlängern würde. Und nicht zuletzt: Die aktuellen Ereignisse um das Atomkraftwerk Saporischschja und die Nordstream-Leitungen zeigen, wie vulnerabel Energie-Großstrukturen sind, und was für ein Erpressungspotential sie ggf. bieten.
Fazit
Der deutsche Atomausstieg war richtig, auch wenn sich über Einzelheiten bei Pfad und Zeit durchaus unterhalten werden kann. In einer durch die Klimakrise immer anfälligeren und konfliktreicheren Welt ist es wichtig, auf dezentrale, flexible Energietechnologien zu setzen. Die Atomenergie wird nicht völlig verschwinden – sollte die Menschheit die Klimakrise überleben, benötigen wir kleine Reaktoren für Weltraumprojekte – , aber für unsere alltägliche Energieversorgung ist sie ebenso überflüssig wie Kohle, Öl und Gas.