06.05.2022
Umwelt und Aggression
Eine Analyse von Götz Warnke
Dass die Umwelt wichtig für das physische und psychische Wohlbefinden der Menschen ist, darf heute als bekannt vorausgesetzt werden: wie entsprechende Studien zeigen, mäßigt eine grün bewachsene Umgebung nicht nur die Temperaturen, sondern auch den Feinstaubgehalt der Luft. Und schon vom 1929 verstorbenen Berliner Zeichner Heinrich Zille ist das Bonmot überliefert, dass man einen Menschen mit einer Wohnung erschlagen könne wie mit einer Axt.
Schwerer tun sich hingegen viele mit dem Begriff „Aggression“. Er wird gewöhnlich im Zusammenhang mit menschlichen Konflikten, seien sie individuell oder kollektiv (Staaten), verwendet und meist als absichtsvoll – zumindest von Seiten einer der Parteien – umgesetzt interpretiert. Selbst die so nüchterne Wikipedia bringt Aggression mit Emotion in Verbindung.
Dabei kommt Aggression vom lateinischen Verb aggredi, das ein breites Bedeutungsspektrum hat: sich nähern, herangehen, zupacken, angreifen. Aggression muss daher nichts mit Emotion und Intention zu tun haben. Es gibt aggressive Viren und aggressive Meeresströmungen; Rost greift Eisen an, Lavaströme ein Dorf. Ja, auch die Natur kann aggressiv sein, wenngleich die Naturschutzverbände, ganz spendenorientiert, lieber von der guten, ganzheitlichen "Mutter" Natur reden.
Bei überindividuellen Aggressionen wie Naturkatastrophen, Kriegen etc. ist die Landschaft entscheidend: eine Aggression gewinnt nur so viel Macht, wie die Umwelt bzw. die Landschaft das zulässt. Dazu einige Beispiele:
Feuer größeren Ausmaßes wie z.B. Flächenbrände werden durch Wasserflächen (Seen, Flüsse, Kanäle) oder nasse Moore eingehegt. Was z.B. passieren kann, wenn ein Moor trockengelegt ist, zeigte der große Moorbrand im September 2018, als die Bundeswehr mit Raketen auf diesem als Truppenübungsplatz ausgewiesenen, sensiblem Gelände übte. Zwei Wochen schwelten die Brände unterirdisch und brachen immer wieder hervor; im Landkreis musste Katastrophenalarm ausgelöst werden. Wind ist zwar wichtig für die Energiegewinnung, aber zu viel Wind in Form von Orkanen führt nicht nur zum Abschalten der Windkraftanlagen, sondern die beschleunigten Luftmassen greifen auch Wälder an, knicken Hochspannungsmasten und treiben als Sturmfluten Wassermassen über die Deiche. Selbst ein deutlich weniger starker Wind kann tödliche Folgen haben, wie die Massenkarambolage in einem Sandsturm auf der A19 bei Rostock Anfang April 2011 zeigte. Dass durch den Wind von den offenen landwirtschaftlichen Flächen auch große Mengen wertvollem Humus abgetragen werden, geht angesichts der acht Toten des Unglücks verständlicher Weise unter.
Wasser gilt als Lebenselixier; bei großen Mengen in kurzen Zeiträumen kann es aber zum Todeselixier werden. Nein, dies zielt nicht primär auf die Flutkatastrophe im Ahrtal, zumal die dortige Extremflut historisch kein Einzelfall war und offensichtlich durch „Naturschutzmaßnahmen“ wie das Entfernen von Stauwehren verschlimmert wurden. Vielmehr ist hier an die Magdalenenflut von 1342 gedacht, die nicht nur tausende Menschen tötete, sondern Milliarden Tonnen fruchtbarer Böden wegschwemmte. Vorausgegangen waren die Rodungen des Hochmittelalters; sieben Jahre nach der Flut folgte die große Pestepidemie, die auf eine wegen der Flutkatastrophe schlecht ernährte Bevölkerung traf. Nach dem durch die Pest bedingten Bevölkerungsrückgang wuchsen die Wälder wieder. Eine ähnliche Naturkatastrophe heute hätte neben unzähligen Flutopfern auch noch hunderttausende an Hungertoten in Deutschland zur Folge.
Krieg, diese menschengemachte, von einigen als „Spezialoperation“ verharmloste Katastrophe, wird zumindest von Seiten des jeweiligen Aggressors seit 1918 immer sehr panzerlastig orchestriert: Panzer sind schnell, relativ geschützt, untereinander per Funk vernetzt und stark bewaffnet – eine ideale Angriffswaffe. Allerdings benötigt die Panzerwaffe auch eine bestimmte Umwelt, um wirken zu können: ebene, ausgeräumte, wenig strukturierte Landschaften, in denen man die eigenen Stärken voll ausspielen kann, und die dem Verteidiger mit seinen kürzer reichenden Panzerabwehrwaffen möglichst keine Deckung bieten.
Solche als „Panzergelände“ bezeichnete Oberflächenformen finden sich in Deutschland bei Fulda oder in der Norddeutschen Tiefebene, in der der Bau des Elbe-Seitenkanal auch als Panzergraben gedacht war. Aber auch Mecklenburg-Vorpommern mit seinen riesigen Agrarflächen ehemaliger Junker-Güter und späterer LPGs passt in dieses Schema. Und natürlich die weiten Ebenen der Ostukraine, die durch die stalinistische Zwangskollektivierung zusätzlich „ausgeräumt“ wurden, und durch die anschließend die NS-Panzerarmeen nach Osten und die roten Panzerarmeen nach Westen rollten. Stärker strukturierte Landschaften wie die Nord- und West-Ukraine sind deutlich weniger „panzerfreundlich“; und in den finnischen Wäldern scheiterten 1939/40 sogar ganze sowjetische Panzerarmeen.
Bei all’ diesen vielen Fakten ist die eigentlich interessante Frage, was diese „aggressionsfördernden Landschaften“ gemeinsam haben, was sie ausmacht. Es sind ausgeräumte Landschaften, unstrukturierte Topographien, entgrenzte Räume, an Vegetationsvielfalt arme Böden. Diese weitgehend „gesichtslosen“ Ebenen dienen häufig nur einem singulären Zweck: als Bioenergieplantagen, Kornkammern, Brachen und Übungsplätze – oder eben als „Panzergelände“, frei nach dem Motto: wo sogar landwirtschaftliche Großmaschinen durchkommen, kommen Panzer allemal durch. Es sind dieselben Landschaften, bei denen das UN-Wüstensekretariat vor zunehmender Versteppung im Zuge der Klimakrise warnt. Spätestens dann dürften diese Landschaften auch ihrem letzten, singulären Zweck nicht mehr gerecht werden.
Wenn es aber nicht so bleiben kann – was also tun. Zurück zur Natur? Das ist angesichts der zunehmenden Weltbevölkerung nicht empfehlenswert, zumal auch natürliche Landschaften biologisch sehr unproduktiv sein können, und man angesichts der Dynamik der Klimakrise auch fragen könnte, zu welcher Natur man zurück möchte, und wie lange dieses denn überlebensfähig ist. Nein, wir brauchen bezüglich unserer Landschaften – frei nach E.F. Schumacher – eine „Rückkehr zum menschlichen Maß“, eine kleinteiligere, vielfältigere Landwirtschaft in stärker strukturierten, klimaresilienten Landschaften. Ansätze dazu gibt es längst – traditionell in Ostfriesland oder in Schleswig-Holstein mit den Wallhecken, modern mit den Agroforstsystemen oder den Permakulturkonzepten. Handeln wir also, bevor wir Opfer der nächsten Aggression werden, bevor eine weitere Katastrophe an uns „herantritt“.