03.12.2021
Niemand hat die Absicht, Atomenergie oder Erdgas grünzuwaschen
Ein Bericht von Tatiana Abarzúa
Eine kleine Quizfrage: Wie oft treffen sich Lobbyisten der Gas- und Atomindustrie mit Mitarbeitern der EU-Kommission? Mit Vertretern der Gaslobby fanden zwischen Januar 2020 und Mai 2021 insgesamt 323 Treffen statt, mit der Atomlobby waren es 44, wie Reclaim Finance recherchiert hat (siehe Bericht „Out with Science, in with Lobbyists: Gas, Nuclear and the EU Taxonomy“ S. 12 und S. 22). In ihrer Analyse beziehen sich die Autoren auf die Angaben im Transparenzregister der EU-Kommission. Bei 27 Gaslobby- und 9 Atomlobbymeetings war das Thema: EU-Taxonomie oder nachhaltige Finanzstrategie.
Großzügig finanzierte Lobbyisten der fossilen Industrie
Eine weitere Recherche der Campaigner zeigt auf, dass Blackrock ein großer Player ist, da der Konzern „5 % oder mehr der Aktien aller führenden europäischen Öl- und Gaskonzerne hält“. Außerdem habe diese US-amerikanische Vermögensverwaltungsgesellschaft mehrere Verbindungen zu Unternehmen der fossilen Industrie, sagt Reclaim Finance. Beispielsweise ist Pamela Daley Vorstandsmitglied bei Blackrock und BP, wie auch der Website von BP zu entnehmen ist. Reclaim Finance zufolge gibt die fossile Industrie jährlich etwa 65 bis 78 Millionen Euro für Lobbyismus für Erdgas (167 Organisationen) und 6 bis 8 Millionen Euro für Lobbyismus für Atomenergie (25 Lobby-Organisationen) aus.
Wirtschaftstätigkeiten pro Klimaschutz und Anpassung an den Klimawandel
Mit der EU-Taxonomie verfolgt die Europäische Kommission das Ziel, einheitliche Kriterien zu definieren mittels derer Geldanlagen als nachhaltig eingestuft werden. Die Einführung einer solchen Systematik hatte die Brüsseler Behörde im Mai 2018 vorgeschlagen, im Dezember 2019 vereinbarten der Europäische Rat und die Verhandlungsführer des Europäischen Parlaments einen Kompromisstext (die DGS-News berichteten) Der entsprechende delegierte Rechtsakt („Taxonomy Regulation“) umfasst 57 Wörter: „zur Ergänzung der Verordnung (EU) 2020/852 des Europäischen Parlaments und des Rates durch Festlegung der technischen Bewertungskriterien, anhand deren bestimmt wird, unter welchen Bedingungen davon auszugehen ist, dass eine Wirtschaftstätigkeit einen wesentlichen Beitrag zum Klimaschutz oder zur Anpassung an den Klimawandel leistet, und anhand deren bestimmt wird, ob diese Wirtschaftstätigkeit erhebliche Beeinträchtigungen eines der übrigen Umweltziele vermeidet“. Indirekt veranschaulicht das die Komplexität des Themas taxonomiekonforme Geldanlagen. Dafür und auch für die politische Sprengkraft spricht, dass für zwei Bereiche eine Entscheidung verschoben wurde – die Einordnung von „Erdgastätigkeiten“ und eine Bewertung, ob Atomenergie als umweltverträgliche Aktivität bezeichnet werden soll.
Toxische Vermögenswerte erhalten Label „nachhaltige“ Geldanlage?
Vor fünf Jahren beschrieb die Süddeutsche Zeitung OL3, den dritten Reaktorblock in Olkiluoto (Finnland), als: ein toxic asset, „ein Objekt, das jetzt selbst ein vom Staat kontrollierter Energiekonzern wie EDF nicht will“. Nun scheint der Druck der Lobby der fossilen Industrie Erfolg zu haben, wie in verschiedenen Meldungen zu lesen ist. So gäbe es Spekulationen über „einen schmutzigen Deal“, nach Abschluss der COP 26, und bevor Rot-Grün-Gelb in Deutschland regiert. „Der geht so: Die EU-Kommission legt ihre neue Taxonomie kurz vor Antritt der neuen Bundesregierung vor – also bevor die Ampel ein Veto organisieren kann. Damit tut Angela Merkel zum Abschied den Franzosen, die gern neue Atomkraftwerke subventionieren wollen, einen Gefallen. Und ganz nebenbei auch noch der Gasindustrie, „die in Osteuropa (und auch bei den deutschen Sozialdemokraten) viele Fans hat.“, berichtete Die Zeit vor zwei Wochen.
Wie die finnische Regierung mitteilt, reiste Mairead McGuinness im Zeitraum, in dem der Europäischen Rat die „Taxonomy Regulation“ prüfte, auf Einladung von Wirtschaftsminister Mika Lintilä und Finanzministerin Annika Saarikko nach Finnland. McGuinness ist EU-Kommissarin für Finanzdienstleistungen, Finanzstabilität und Kapitalmarktunion und war von Juli 2019 bis Oktober 2020 Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments. Das Thema der Geschäftsreise: die EU-Taxonomie. Nach Meinung von Lintilä spiele die Atomkraft eine wichtige Rolle beim Erreichen der finnischen Klimaneutralitätsziele. „Die EU-Taxonomie muss technologieneutral sein, nachhaltige Investitionen fördern und den grünen Übergang beschleunigen“ wird er in der Pressemitteilung zitiert. Für Saarikko ist es „wichtig, dass die Kriterien in enger Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten erarbeitet werden“. McGuinness besucht auch Onkalo, dort ist das weltweit erste atomare Endlager für hochradioaktive Abfälle geplant, und das AKW Olkiluoto. Beides sind Investitionsprojekte an denen Teollisuuden Voima Oyj (TVO) beteiligt ist. TVO ist neben Foratom (European Atomic Forum) und EDF eines der drei Unternehmen aus der Atombranche, die laut der eingangs erwähnten Recherche die meisten Lobbyisten-Meetings mit der EU-Kommission hatten (siehe Abbildung). Drei Treffen (von insgesamt vier) mit dem Anliegen „EU-Taxonomie“.
Was sagt der Club of Rome dazu?
Ende vergangener Woche meldete sich auch der Club of Rome zu Wort bei der Debatte um die Kriterien. Die Organisation fordert, dass die EU-Taxonomie globale Klimaziele unterstütze und den Fortschritt nicht durch nationale Interessen untergraben dürfe. „Nach anhaltendem politischem Druck von Mitgliedstaaten sei zu erwarten, dass die Europäische Kommission in der kommenden Woche Erdgas und verwandte Technologien, sowie Atomenergie, in die EU-Taxonomie aufnimmt“, teilt die gemeinnützige Organisation mit. Co-Präsidentin Sandrine Dixson-Declève sagt, dass die Maßnahmen zur Kennzeichnung von Erdgas als Übergangstätigkeit völlig irreführend seien und die Bemühungen der EU zur Transformation ihrer Wirtschaft untergraben würden. Auf der Webpräsenz weist der Club of Rome auch darauf hin, dass die Aufnahme von Atomenergie in die EU-Taxonomie der wissenschaftlichen Analyse der unabhängigen technischen Expertengruppe (TEG) widerspreche, die eingerichtet wurde, um die Taxonomievorschläge für die Europäische Kommission zu erarbeiten. Eine Einbeziehung der Atomenergie bedeute ein hohes Risiko, dass der Schwellenwert „Do No Significant Harm“ gebrochen werde, wodurch die Legitimität des Klassifikationssystems untergraben werde. Nach Angaben des Club of Rome sei die Verzögerung beim Erlass des ersten delegierten Rechtsakts zur EU-Taxonomie für umweltverträgliche Aktivitäten (Taxonomy Climate Delegated Act) Berichten zufolge darauf zurückzuführen, dass Mitgliedstaaten angekündigt hätten, ihr Veto gegen dieses Gesetz einzulegen, wenn ihren Forderungen im Ergänzungsgesetz zu Gas und Atomkraft nicht entsprochen werde. Außerdem sei es immer noch unklar, ob die Europäische Kommission vor einer Veröffentlichung dieses Zusatzgesetzes eine offene Konsultation durchführen oder die Plattform für eine nachhaltige Finanzwirtschaft anhören werde.
„Greenwashing droht vor Abschluss der Regierungsbildung“
Sehr informativ in diesem Zusammenhang ist eine Faktensammlung der Organisation IPPNW über sogenannte radioaktive „Niedrigstrahlung“. In der Broschüre setzt sich die Deutsche Sektion der Internationalen Ärzt*innen für die Verhütung des Atomkriegs, Ärzt*innen in sozialer Verantwortung e. V. kritisch mit Behauptungen von Nuklearia auseinander, etwa ob Niedrigstrahlung „unbedenklich“ sei. Da erwähnen sie medizinische Belege für „eine signifikant erhöhte Rate des Vorkommens von Leukämien bei Kindern unter fünf Jahren um 50 %, die im Umkreis von 16 deutschen Atomkraftwerken wohnten in den Jahren 1980 bis 2003“. Dem IPPNW zufolge tarne sich Nuklearia als unabhängige Bürgerinitiative um gezielt Propaganda für die Atomindustrie zu verbreiten. „Die Behauptungen von Nuklearia sind nachweislich falsch, irreführend und damit unseriös“, so der IPPNW. Ein weiteres Beispiel aus der Argumentationshilfe: „Allein in der nach der Katastrophe von Tschernobyl besonders hoch radioaktiv belasteten Region um Gomel, Weißrussland, erwartet man weit über 100.000 zusätzliche Fälle an Schilddrüsenkrebs in allen Altersgruppen“.
„Greenwashing droht vor Abschluss der Regierungsbildung“ warnt der IPPNW. Als Mitunterzeichner eines offenen Briefs an den künftigen Bundeskanzler Olaf Scholz fordert die Organisation ihn auf, das Veto Deutschlands gegen die Aufnahme von Atomstrom in der EU Taxonomie zu bestätigen. Nach Meinung von Dr. med. Angelika Claußen, Co-Vorsitzende von IPPNW, habe zudem der Bau neuer AKW in Frankreich „mit Klimaschutz nichts zu tun“. Präsident Macron gehe es stattdessen „um die Forschung und den Bau von atombetriebenen U-Booten, Atomwaffen und Flugzeugträgern“. Claußen macht auf eine Recherche des schottischen Netzwerks „The Ferret“ aufmerksam. Diese habe aufgezeigt, dass auf der UN-Klimakonferenz in Glasgow insgesamt 141 Vertreter:innen der Atomenergiebranche registriert waren. Die Zeit werde knapp „um das 1,5°C Limit noch einzuhalten“ und mit jedem Cent in Atomenergie fehle das Geld „da wo es darauf ankommt“, so Claußen.
Kürzlich hatte unter anderem die Süddeutsche über ein Positionspapier berichtet, in dem Minister:innen aus Deutschland, Österreich, Luxemburg, Dänemark und Portugal ihre Kritik äußern an einer Bezeichnung von Atomenergie als „nachhaltig“. „Wir appellieren daher an die Europäische Kommission, ihren mutigen Weg, die EU zum weltweiten Leitmarkt für nachhaltige Finanzen zu machen, nicht aufs Spiel zu setzen“, schreiben sie (Joint Declaration for a nuclear-free EU Taxonomy).
Wie das Ergebnis sein wird, ist noch offen. Eine Zweidrittelmehrheit im Rat der Regierungen oder im Europäischen Parlament könnte das Greenwashing von Erdgas und Atomenergie verhindern.