26.11.2021
Trügerische Sicherheit an der Ostseeküste
Ein Situationsbericht von Heinz Wraneschitz
„Nordsee ist Mordsee“: Auch wenn der Film aus dem Jahre 1976 – Regie: Hark Bohm, Musik: Udo Lindenberg – nichts mit dem Meeresspiegelanstieg zu tun hat: Dem deutschen Teil des Atlantischen Ozeans unterstellt man schon immer mal wieder, dass er über die Ufer treten und Niedersachsens und Schleswig-Holsteins Landschaften überfluten würde. Doch womöglich bleibt auch bald den Anwohner*innen der Ostsee nicht mehr viel anderes übrig, als „ein Segelboot zu klau`n und einfach abzuhau`n“, wovon Lindenberg im Nordsee-Titelsong auf so wunderbare Art träumt.
Es ist trügerisch, für die dortige Bevölkerung womöglich mehr als für urlaubende Tourist*innen. Denn hier, an der Ostküste Schleswig-Holsteins, dem nördlichen Ende von Meck-Pomm und den darüber liegenden Inseln gibt es keine hohen Deiche wie an der Nordsee. Trotzdem, wenn auch etwas unter dem globalen mittleren Meeresspiegelanstieg: An der deutschen Ostseeküste hat sich in den letzten 100 Jahren der mittlere jährliche Wasserstand bereits beträchtlich erhöht. So ist der Meeresspiegel in Warnemünde um 14 cm, in Travemünde um 17 cm angestiegen.
Das „Norddeutsche Küsten- und Klimabüro“ am Helmholtz-Zentrum Hereon in Geesthacht wertet mit seinem Meeresspiegelmonitor „die mittleren Wasserstände an deutschen Nord- und Ostseepegeln fortlaufend aus und setzt sie in den langfristigen Kontext“, erfährt man in der nagelneuen Broschüre „Meeresspiegelanstieg an der deutschen Ostseeküste“. Schon seit 2003 wird hier nach der Strategie „Forschung für Nachhaltigkeit“ gearbeitet, unterstützt vom Bundesministerium BMBF.
Ganz allgemein hat der Weltklimarat IPCC bekanntlich vorausgesagt: Ohne ehrgeizige Anpassungsbemühungen werden künftig Erosion, Landverluste und Überschwemmungen weltweit deutlich zunehmen. „Das gilt auch für die deutsche Ostseeküste. Denn bisherige wasserbauliche Maßnahmen können durch den Klimawandel früher oder später weniger wirksam werden“, ist Insa Meinke sicher, Hereon-Forscherin und Autorin besagter Broschüre.
Die seit Aufzeichnungsbeginn höchste Ostsee-Sturmflut mit etwa drei Metern Höhe erlebten die Küsten-Bewohner*innen am 13. November 1872. Doch „die damals erreichten Wasserstände können jederzeit wieder eintreten und sogar übertroffen werden. Durch die sozioökonomische Entwicklung ist die potentielle Sturmflutgefährdung jedoch heute um ein Vielfaches höher“, haben Hereon-Analysen mit Hilfe des Webtools kuestenschutzbedarf.de ergeben.
Bis 2100 rechnet das Helmholtz-Institut mit einem Anstieg des durchschnittlichen Ostsee-Meeresspiegels von etwa 80 cm – jedenfalls „bei weiterhin ungebremstem Treibhausgasausstoß. Aber selbst bei sehr niedrigen künftigen Treibhausgasemissionen ist ein Anstieg von etwa 30 bis 55 cm bis 2100 im Vergleich zu heute (1995 bis 2014) zu erwarten.“ Damit die Orte direkt an der Küste dadurch nicht automatisch überschwemmt werden, sind selbst dort erhebliche Maßnahmen nötig. Aber beispielsweise sogar der 45 km im Landesinneren gelegene Ort Teterow in der „Mecklenburgischen Schweiz“ wäre durch die heute bereits vorhandenen Schutzmaßnahmen nicht ausreichend gegen solche höheren Wasserstände gesichert.
Hilfe durch Küstenschutz?
Und was könnte helfen, die schöne Gegend vor einem Untergang zu schützen, wie er der Sage nach dem Kontinent Atlantis widerfahren ist?
Fest installierte Schutzvorrichtungen wie Deiche, Ufermauern oder Steinwälle können wirksam vor Küstenhochwasser schützen. „Das Sicherheitsniveau ist planbar und vorhersagbar. Sie bringen aber auch Nachteile mit sich: Vor dem Bauwerk verschlechtert sich die Küstenstruktur zunehmend“, gibt Forscherin Meinke zu. Sogenannte „ökosystembasierte Maßnahmen“ wirken anders: sie minimieren die Eingriffe in die Natur und verringern die aus dem Eingriff resultierenden negativen Folgen. Jedoch böte zwar „der sedimentbasierte Küstenschutz hohe Flexibilität, auf künftige Klimafolgen zu reagieren. Grundsätzlich werden diese Maßnahmen aber durch die mangelnde Verfügbarkeit von Sediment an der deutschen Ostseeküste limitiert.“ Dann wohl eher schon „Seegraswiesen. Die tragen nicht nur zum Küstenschutz bei, sondern fördern vor allem auch die Biodiversität und leisten durch Kohlenstoffspeicherung einen Beitrag zum Klimaschutz.“ Und hier biete die Ostsee „optimale Standortbedingungen mit flachen Küsten bei geringer Wellenenergie“.
In der Broschüre werden aber auch „noch weitreichendere Maßnahmen“ ins Spiel gebracht wie „die Rückverlegung von Küstenschutzlinien bzw. der Rückzug von der Küste. Bisherige Schutzmaßnahmen, wie Deiche oder Ufermauern, werden dabei zurückgebaut oder aufgegeben, um die Überflutung vormals gesicherter Gebiete zuzulassen.“ Ob die Bewohner*innen von Rostock, Bad Doberan, Heringsdorf, Wismar oder Lübeck da so einfach mitmachen werden?
Dass die Wasserstände grundsätzlich steigen werden, liegt im Übrigen nicht allein am Abschmelzen der Polkappen: „Außerdem dehnt sich der Ozeanwasserkörper durch die Erwärmung aus und trägt so zusätzlich zum Meeresspiegelanstieg bei“, erfährt man beim Lesen der Broschüre. Eine trügerische Sicherheit also, in der sich die Bewohner*innen der Ostseeküste da wiegen, wenn sie allein auf die immer wieder international vereinbarte Senkung der Treibhausgasemissionen vertrauen.