11.06.2021
Ohne Sinn und Verstand
Eine Kritik von Götz Warnke
Arbeitsplatz-Zahlen sind ein Thema, mit denen sich Massen mobilisieren – aber auch manipulieren lassen. Das gilt besonders dann, wenn es um große Zahlen geht. Und so ist es kein Wunder, dass die Studie „Auswirkungen der vermehrten Produktion elektrisch betriebener Pkw auf die Beschäftigung in Deutschland“ des Münchner ifo-Instituts in den entsprechenden Kreisen entsprechende Beachtung fand. Wenngleich – oder vielleicht auch: Weil – zu den Autoren der Studie nicht der wegen seiner Haltung zur Elektromobilität in Verruf geratene Prof. Hans-Werner Sinn gehört, wirken die Ergebnisse dieser Veröffentlichung doch auf viele erschreckend: Allein bis 2025 sind nach der ifo-Studie 178.000 Beschäftigte und mehr bei Autoherstellern und Zulieferern von der E-Motor-Transformation betroffen, wenn die Fossil-Fahrzeug-Produktion den gesetzlichen Erfordernissen der Abgasregulierung entsprechend angepasst wird. Dabei gehen im gleichen Zeitraum nur 75.000 Beschäftigte der Produktion in den Ruhestand.
Bis 2030 sind sogar über 215.000 Arbeitsplätze in der Autoindustrie und bei den Zulieferern davon betroffen, wobei davon nur 147.000 Produktionsbeschäftigte in Rente gehen. Es geht also um unter 200.000 Arbeitsplätze – eine nicht unerhebliche Zahl, wenngleich sie weit weniger dramatisch ist als die 600.000 Arbeitsplätze vor einigen Jahren, die mit dem Horrorszenario „Verbot des Verbrenners“ in den Raum gestellt wurden.
Zwar weist die ifo-Studie nüchtern darauf hin, dass der Umschwung zur Elektromobilität ein internationaler Trend ist (S. III, 1) – also nicht etwa ein skurriler deutscher Sonderweg, wie manche der Gegner glauben machen wollen – , und dass seit 2015 gerade in den höher qualifizierten Bereichen Entwicklung und Informations- und Kommunikations-Technologie die Beschäftigung in dieser Industrie überdurchschnittlich zugenommen habe (S. 12 f.), bei nur geringen Arbeitsplatzverlusten insgesamt. Doch manche Medien mit einer gewissen „E-Auto-Allergie“ griffen das Thema auf und dramatisierten es entsprechend: „Es gehen Arbeitsplätze verloren, mit denen man eine Familie ernähren kann“, titelte z.B. die Welt.
Auch für den Verband der Automobilindustrie (VDA), der die ifo-Studie in Auftrag gegeben hatte, scheint der Weltuntergang kurz bevor zu stehen: Verbandspräsidentin Hildegard Müller, 2005-2008 Staatsministerin unter Angela Merkel und anschließend als Lobbyistin tätig, spricht angesichts der notwendigen Nachschärfung der deutschen Klimaschutzziele ebenso wie Ifo-Chef Clemens Fuest von nationalem Alleingang und Überbietungswettbewerb, der Arbeitsplätze koste. Statt dessen bekennt sich der VDA zu einer Klimaneutralität der Autoindustrie im Jahr 2050 – so, als hätte man in den Chefetagen der deutschen Autoindustrie die Klimadiskussion der letzten Jahre gänzlich verschlafen.
Natürlich gibt es gegen diese verständnislosen Dramatisierungen auch Widerspruch von fachlicher Seite, etwa vom Autoexperten Ferdinand Dudenhöffer. Und manches Rauschen aus dem noblen Berliner MarkgrafenPalais, dem Sitz des VDA, mag sich auch einfach daraus erklären, dass die Autokonzerne dort ihre Beiträge gemäß der Zahl ihrer Angestellten entrichten müssen, wie man aus einem Streit mit VW-Chef Herbert Diess weiß: Also weniger Mitarbeiter in der Autoindustrie = weniger Geld für den VDA.
Doch jenseits solcher Dramatisierungen bleibt trotz allem die Frage, wie man auf die Arbeitsplatzverluste in der Autoindustrie reagieren kann. Einzelne Firmen setzen auf Fortbildung der Mitarbeiter. So der Autozulieferer Continental, der einen Bedarf an Software-Entwicklern hat und auch schon mal Mitarbeiter für Tesla zur Verfügung stellt. Doch die meisten Menschen am Band sind nicht als Softwareentwickler geeignet (sonst wären sie schon welche), und nicht jede/r aus einem technischen Beruf wird in einem sozialen (Pflege-)Beruf glücklich. Bleibt also nur die Massen-Arbeitslosigkeit?
Mitnichten! Es genügt einfach schon der Blick auf technisch orientierte Branchen, die einen Mangel an Arbeitskräften haben und dringend Menschen suchen, die man auf diesem Gebiet auch weiterbilden kann.
Hier ist in erster Linie von der Solarwirtschaft die Rede. Wer heutzutage einen Solarteur sucht, der ihm die erste – oder auch zweite – Solaranlage aufs Dach montiert, weiß, wovon hier die Rede ist. Mögen die entsprechenden Solarfirmen noch so engagiert und fix sein, es ist für potentielle Kunden schwierig, einen Termin zu bekommen. Und das ist erst der „Vorgeschmack“: Immerhin muss das Ausbautempo bei der PV vervierfacht, besser noch verfünffacht werden, zumal die Elektromobilität ortsnah versorgt werden muss und die Bioenergie hinsichtlich Holzverbrennung aus Klimagründen kritisch gesehen wird. Schon jetzt fehlen nach Meinung von Brancheninsidern 300.000 Techniker – allein für den Ausbau der Photovoltaik. Solarthermie, Wärmepumpen und Windenergie sind da noch gar nicht eingerechnet. Doch ohne Installateure keine Energiewende und kein Ausweg aus der Klimakrise – der Niedergang der Solarindustrie unter den Merkelschen Bundesregierungen lässt grüßen. Jedenfalls ist hier der Arbeitskräftebedarf deutlich höher als alles, was jemals an Arbeitsplätzen im Verbrennersegment der Autoindustrie verloren gehen könnte. Die neuen Arbeitsplätze werden zwar soziale Sicherheit bieten, aber eben keine Industriearbeitsplätze mit gewohnten Arbeitswegen etc. sein. Doch in der durch die Klimakrise unabwendbaren Transformation gibt es keinen „status quo“ – für niemanden!
Natürlich sind solche einschneidenden Veränderungen nicht nach jedermanns Geschmack. Die Gewerkschaften, allen voran die IG Metall, werden bei dieser großen Transformation Mitglieder verlieren, da der Organisationsgrad im Handwerk mit vielen nicht tarifgebundenen Firmen nicht so hoch ist wie in der Industrie, und weil sich hier viele Branchenwechseler auch selbständig machen können. Aber die Gewerkschaften und die ihnen nahe Hans-Böckler-Stiftung haben sich mit dieser Situation bereits seit Jahren beschäftigt.
Völlig überraschend ist hingegen, wer sich gegen die große Transformation positioniert: die Grüne Jugend fordert nach Spiegel-Informationen Status-Garantien für Beschäftigte der Fossilindustrien in Form von entsprechenden Arbeitsplätzen z.B. in anderen Industrien. Dazu kommen dann weitere sozialpolitische Wahlgeschenke wie Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich oder eine Art Bedingungsloses Grundeinkommen in Form einer „sanktionsfreien Grundsicherung von mindestens 1.100 Euro“. Festhalten am Industriesystem, Statuswahrung statt Flexibilität, Wachstum statt Suffizienz, es klingt wie ein Schlaraffenland in der Klimakrise. Das aber wäre dann wirklich ohne Sinn und Verstand.