07.05.2021
Kein Solarzoll-Betrug: Freisprüche ohne Beweisaufnahme
Über ein Prozesserlebnis der besonderen Art berichtet Heinz Wraneschitz
Im neu aufgerollten "Sunowe"-Prozess um laut Anklage unterlaufene Mindestpreise für Solarmodule sprach die 3. Strafkammer des Landgerichts Nürnberg-Fürth alle sechs Angeklagten frei. Er dauerte auch nur zwei statt der angesetzten zwölf Verhandlungstage. Zudem gestand die Kammer vieren von ihnen, die teils lange U-Haft ertragen mussten, Schadenersatz zu. Und: Die Kosten trägt die Staatskasse.
Das Urteil hatte sich bereits zu Prozessbeginn abgezeichnet. Das ist bemerkenswert. Denn die Nürnberg-Fürther Staatsanwaltschaft hatte die Sechs per über 200-seitigen Schriftsatz wegen "gewerbs-/bandenmäßiger Steuerhehlerei" und anderer Delikte angeklagt. Zur Begründung sollte eine EU-chinesische Vereinbarung auf Mindest-Solarmodulpreise taugen, "Undertaking" genannt.
Doch der Vorsitzende Richter Maximilian Ehrhardt hatte gleich nach der Verlesung der Anklageschrift klargelegt, was er davon hält: "Die Strafbarkeit ist mehr als fragwürdig."
Rückblende: Im Oktober 2017 hatte "Sunowe" für Schlagzeilen gesorgt. Die Zollfahndung hatte ermittelt: Die in Nürnberg ansässige deutsche Tochter des chinesischen Herstellers Sunflower habe die seit 2013 geltenden, von der EU-Kommission festgesetzten Mindesteinfuhrpreise für Solarmodule unterlaufen. Weit über 20 Mio. Euro sollte dem Staat dadurch entgangen sein.
Und die Konkurrenz von Sunowe, die sich an die Regeln gehalten hat, hätte so das Nachsehen bei Auftragsvergaben gehabt, schlussfolgerten nicht nur die Behörden. Nach eigener Aussage hatte die Zollfahndung demnach "ein Betrugskartell mit Solarmodulen ausgehoben". Vier Personen aus Geschäftsführung und Belegschaft waren damals verhaftet worden, darunter Christian Pech, im Ehrenamt SPD-Vizelandrat des Landkreises Erlangen-Höchstadt.
Im März 2019 begann der Prozess gegen insgesamt sechs Angeklagte. Doch nach genau 17 Verhandlungstagen kam das unerwartete Aus: "Schmuggel von Solarmodulen: Hauptverhandlung ausgesetzt" verkündete die Justizpressestelle Nürnberg.
Denn das Zollfahndungsamt als zuständige Ermittlungsbehörde hatte es innerhalb von 30 Tagen nicht geschafft, "Zollanmeldungen, zentrale Beweismittel" vorzulegen, so die Presseinfo. Die Anklage für "Steuerhehlerei" stützte sich schon 2019 auf eine "Verpflichtungserklärung" der chinesischen Handelskammer auf einen Mindesteinfuhrpreis für Solarmodule und deren Annahme durch die EU-Kommission.
Auch beim neu gestarteten Verfahren wurde dieselbe Anklageschrift verlesen wie 2019. Doch in der Zwischenzeit ist die 3. Strafkammer mit anderen Personen besetzt worden. Der neue Vorsitzende Richter Ehrhardt stellte nun fest: Die Verpflichtungserklärung war schon 2013 und sei bis heute nicht öffentlich einzusehen. "Dieses Undertaking wurde nicht veröffentlicht", ergänzte Markus Wagner, einer von Ex-Vizelandrat Pechs Verteidigern.
Was das bedeutet, war im Verfahren zu erfahren: Wie hoch oder niedrig die Mindestpreise sind, ist nicht bekannt. Genauso wenig, ob dieser Sockel im Lauf der Jahre verändert wurde. Das ist insofern interessant, als sich gerade im betroffenen Zeitraum 2013 bis 2017 weltweit die Modulpreise teils in freiem Fall befanden.
Richter Ehrhardt spannte in seiner rechtlichen Einschätzung zu Prozessauftakt an diesem Montag den Bogen bis zum Grundgesetz: Artikel 103 Absatz 2 schützt vor willkürlichen Maßnahmen", stellte er klar. Deshalb sei in dem von Staatsanwaltschaft und Zoll angenommenen Betrug "das Bestimmtheitsgebot verletzt: Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn der Betroffene weiß, dass etwas verboten ist."
Und so passierte am Mittwoch, dem zweiten Verhandlungstag etwas in Landgerichtsverfahren sehr Seltenes: Ohne Beweisaufnahme kam es zu den Plädoyers. Von diesem Verlauf hatte sich die Kammer auch nicht durch Anträge und Vorhaltungen von Nils Reuter abbringen lassen: Der als Gruppenleiter tätige Staatsanwalt hatte die "Verfahrenswidrigkeit" eines solchen Vorgehens angeprangert. Freisprüche oder Verurteilungen seien nur möglich, "wenn das Gericht den Sachverhalt erforscht hat. Ein Urteil ohne Beweisaufnahme wird keinen Bestand haben", gab sich Reuter überzeugt.
Die Verteidiger hoben vor allem auf die aus ihrer Sicht unnötigen Zwangsmaßnahmen gegen ihre Mandanten ab. Die Hauptangeklagte, Geschäftsführerin Yonghua M.-H. habe in ihrer 17-monatigen U-Haft ihre grundschulpflichtigen Söhne nicht betreuen können, stellte ihr Anwalt heraus. Christian Pech, der Ex-Vize-Landrat, nahm sich in seinem Schlusswort vor allem das Verwaltungsgericht und die Bayerische Landesanwaltschaft vor. Von wegen Verbot der Vorverurteilung: "Ich wurde als betrügerischer Politiker dargestellt. Die Suspendierung ist bis heute nicht aufgehoben."
Betroffen machte auch das "Letzte Wort" der zweiten weiblichen Angeklagten. Li H. berichtete von der Durchsuchung ihrer Privatwohnung und ihres Firmenbüros am 16. März 2018. "Zollbeamte und Staatsanwaltschaft haben in meinem Notizbuch das Wort "minder" entdeckt. Hätten sie genauer hingesehen, hätten sie gemerkt: Damit waren keine Minderpreise gemeint." So aber wurde die teilzeitbeschäftigte Büroangestellte an diesem Tag festgenommen und musste über 14 Monate in Untersuchungshaft verbringen.
Richter Maximilian Ehrhardt erklärte in seiner "ungewöhnlichen Begründung eines ungewöhnlichen Verfahrens" noch einmal, warum es "nur die Möglichkeit zu Freisprüchen" gab: "Die Bestimmtheit wurde nicht erfüllt", die Angeklagten kannten die Vereinbarung zwischen der Chinesischen Handelskammer und der EU nicht, auf der die Anklage fußt. Und deshalb, so Ehrhardt, "kommt auch eine Buße gegen die Projektgesellschaften nicht in Betracht": Die Gesellschaften hätten ebenfalls die Inhalte der "Undertaking"-Vereinbarung nicht gekannt.
Antje Gabriels-Gorsolke, die Pressesprecherin der Staatsanwaltschaft, bestätigte auf DGS-Nachfrage, man werde den Gang zur Revisionsinstanz Bundesgerichtshof wagen. Das wiederum wird zu weiteren Jahren der Unsicherheit bei den Freigesprochenen führen. Doch zunächst müssen alle Beteiligten auf die schriftliche Urteilsbegründung der 3. Strafkammer warten.
In auf den ersten Blick ähnlich gelagerten Fällen zu Verstößen gegen das "Undertaking"-Abkommen haben Landgerichte wie zum Beispiel in Darmstadt anders geurteilt. Dieses Vorgehen hat sogar der Bundesgerichtshof bestätigt - wenn auch wegen Fristversäumnis.
"Doch diese Urteile sind nicht einschlägig und treffen nicht den Sachverhalt unseres Falls", erklärte Richter Erhardt in seinem Vortrag. Etwas anderes hatte der Kammer-Vorsitzende in dieser mündlichen Begründung aber trotz der strafrechtlichen Freisprüche ebenfalls ausdrücklich betont: "Ob gegen die Zollvorschriften verstoßen wurde, wurde durch uns nicht entschieden." Ob ein eventuell dafür angerufenes Finanzgericht die zig Millionen Steuerforderung anerkennt, ist demnach weiterhin offen.