19.06.2020
Sind Sie auch schon auf den Geschmack gekommen?
Ja, ist denn schon Nach-Corona? Auf vielen Ebenen wird mittlerweile wieder der Normalzustand geprobt. Nehmen wir mal Bayern. Nachdem hier der Katastrophenfall aufgehoben wurde, sind auch private Treffen wieder möglich, können Urlaubsreisen langsam geplant werden, kehrt in der Arbeitswelt Stück für Stück Normalität ein.Viele von uns sehnen sich schon länger nach dem Gewohnten und können es kaum erwarten, die Freiheit wieder in vollen Zügen zu genießen. Doch ist alles, was lange nicht möglich war, überhaupt noch grundsätzlich gewünscht? Wollen wir alle wirklich einfach wieder zurück zu dem Leben, dass wir vorher hatten - jetzt, wo wir so manche andere Seite kennenlernen mussten oder auch durften? Für viele war es unbekanntes Terrain, das sie betraten. In diesem terra incognita musste man sich zwangsläufig mehr mit sich selbst und seiner näheren Umgebung beschäftigen. So wurde etwa die eigene Küche tatsächlich zum alltäglichen Treffpunkt und Arbeitsplatz. Auch wurden das Wochenende und die Abende nicht wie selbstverständlich „on the road“, sondern auch mal mit einem Buch oder mit Menschen außerhalb von Etablissements und Kneipenluft verbracht. Es war viel mehr Zeit für Dinge vorhanden, die man schon immer mal machen wollte, der private Terminkalender war überschaubar. So mancher war das gar nicht gewohnt und musste sich erst einmal selbst von seiner Angst therapieren, etwas zu versäumen.
Aber wie bei jedem Entzug ist es auch hier besonders wichtig, nicht rückfällig zu werden. Denn sonst war alles umsonst. Wenngleich alle diese Einschränkungen natürlich nicht wegen der großen Klimakatastrophe getroffen wurden, sind sie dennoch DIE CHANCE für uns, ein Geschenk, das wir annehmen müssen. Denn jahrzehntelang wurde vielfach davon geschrieben und darüber diskutiert, wie es denn möglich sein könnte, unser Leben zu entschleunigen; wie Wohlstand ohne Wachstum oder gar das Gegenteil von Wachstum (Degrowth) zu erreichen sei. Denn dass es ein großer Fehler ist, Wohlergehen nur in Geld zu übersetzen und Wohlstand mit einem wachsenden volkswirtschaftlichen Einkommen zu verwechseln, das ist lange schon bekannt. Besonders fatal ist dieser Irrtum auch, weil wir unverkennbar längst die ökologischen Grenzen überschritten haben. Genauso ist offensichtlich, dass sich die Probleme sozialer Ungleichheit nicht durch einen materiellen Durchsatz von Gütern lösen lassen. Ganz abgesehen davon, dass selbst die Expansionsfähigkeit der Wirtschaft begrenzt zu sein scheint und weiteres Wachstum sogar den Wohlstand unterhöhlen könnte. Deshalb kann Wachstum nicht grün sein: Das hatten wir schon vor längerem an dieser Stelle mal im Detail ausgeführt. Nicht zuletzt macht das alles deutlich, dass wir uns von unserer Abhängigkeit vom Wirtschaftswachstum befreien müssen, um unsere Zivilisation wieder in die Grenzen unseres Planeten zu befördern.
Das bedeutet jedoch nicht, dass mit dem Ende des Wachstums unser Lebensstandard Schaden nehmen muss. Um aus dem zwanghaften Wachstum herauszukommen, muss Wohlstand anders definiert werden. Wie das gehen kann, wird momentan deutlich. Diese Zeit ist ein historisches „Geschenk der zwanghaften Entschleunigung“. Und das müssen wir annehmen. Doch eine solch dramatische Verhaltensänderung zu erreichen, ist enorm schwierig. Das haben alle bisherigen Denkanstöße und Initiativen gezeigt.
Dies soll beileibe kein Plädoyer für einen permanenten Zustand der Kontaktbeschränkung und Beschneidung der individuellen Grundrechte sein. Wir sollten uns jedoch darüber im Klaren sein: Es war noch nie so einfach, den Pfad der langsamen Beschleunigung einzuschlagen und das eigene Konsumverhalten im Detail zu hinterfragen. Da vieles auf nahe Null heruntergefahren wurde, ist es ein leichtes, auf einem anderen Niveau einzusteigen. Auch muss schon rein gar nichts nachgeholt werden. Denn wir hatten uns vorher ohnehin schon „überfressen“. Oder - um bei dem Bild zu bleiben: Dem Heißhunger durch übergroße Portionen zu begegnen führt schnell zu Unwohlsein. Wir können uns vielmehr von ungeliebten Pfunden befreien und genügsamer sein. Nie war es so einfach wie heute!
Denn sind wir erst mal wieder auf der Überholspur, wird es kaum noch ein Zurück geben. Wie der Süchtige wollen wir dann keinen zweiten Zwangsentzug durchmachen, ein Klima-Lockdown würde uns in eine Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes stürzen. In einer TV-Diskussion traf der Naturfilmer und Wissenschaftsjournalist Dirk Steffens den Nagel auf dem Kopf, indem er sagte: „Wenn wir die Lebenserhaltungssysteme dieses Planeten nicht intakt halten, dann ist all das, was wir hier [zu Pandemien] besprechen, Makulatur. Das muss man so deutlich sagen. Wir reden über unsere Existenzgrundlagen.“
Gunnar Böttger formuliert es in seinem aktuellen SONNENENERGIE-Artikel „Flatten The Curve“ so: „Das Corona-Virus hat einen Prozess ins Rollen gebracht, der sich in dieser Geschwindigkeit unserer Vorstellungskraft entzogen hat. Die gesamte Weltwirtschaft wurde praktisch zeitgleich runtergefahren, mit dem weltweiten Lockdown wurde sprichwörtlich der Stecker gezogen.“
Die essentielle Frage lautet daher: Wie wird diese neue Normalität Verhaltensweisen und Gewohnheiten beeinflussen? Wir können nur hoffen, dass die Gesellschaft aus dieser Krise lernt und sich für eine nachhaltige Realität entscheidet. Um auf den Beginn zurückzukommen: Die größere Freiheit, die wir erlangen können, ist die Freiheit von Zwängen, die wir uns selbst auferlegt haben. Wir sollten uns diese Freiheit nehmen und nicht mehr Getriebene sein, auch nicht des Konsums. Es ist auch ein Stück individuelle Freiheit, etwas bewusst NICHT zu tun.
Matthias Hüttmann