26.07.2019
2050 – Odyssee zu einem integrierten Energiekonzept
Neue Nachrichten aus dem Hause Scheuer werden – ganz gleich ob Presseerklärungen, Konzepte oder Studien – in weiten Kreisen der Öffentlichkeit häufig mit hoch gezogenen Augenbrauen oder Kopfschütteln quittiert. Das mag einer der Gründe sein, warum eine neue, in Kurzfassung publizierte Studie des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI), von Ende Mai 2019 kaum Beachtung gefunden hat. Ein weiterer Grund dürft der sperrige Name "Rechtliche Rahmenbedingungen für ein integriertes Energiekonzept 2050 und die Einbindung von EE-Kraftstoffen"[1] sein, der sicherlich vielen im Bereich der Erneuerbaren Energien Engagierten keine Lust aufs Lesen macht. Dabei sind die Auftragnehmer dieser Studie bekannte, renommierte Institutionen: die Kanzlei Becker Büttner Held, die Ludwig-Bölkow-Systemtechnik GmbH (LBST), das Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme (ISE), und das Institut für Klimaschutz, Energie und Mobilität e.V. (IKEM). Wohl in einem Anflug von Selbsterkenntnis, dass so viel geballte Querschnittskompetenz gerade für dieses Ministerium und seine Positionen kritisch werden könnte, haben die Ministerialen den einleitenden Formalien zwei deutliche Sätze hinzugefügt: „Für den Inhalt der Studie zeichnen sich die Studienautoren verantwortlich. Der Inhalt stellt nicht zwingend die Auffassung des Auftraggebers dar.“
Die Studie geht von einem Energiesystem mit Sektorkoppelung und hohem Power-to-X-Anteil aus; sie betrachtet dabei den Zeitraum von heute bis zum Jahr 2050, legt aber den Schwerpunkt auf Maßnahmen für die Zeit bis 2030. Dabei wird das künftige deutsche Stromnetz nicht im Detail bzw. ohne Netzrestriktionen beschrieben/ausmodelliert („Kupferplattenansatz“). Ausgehend vom Energiesystemmodell REMod-D des Fraunhofer ISE werden 14 Szenarien (Tabelle 1) berechnet und hinsichtlich ihrer technischen Leistungsfähigkeit, ihrer Kostenfaktoren und ihrer rechtlichen/juristischen Darstellbarkeit, insbesondere auch mit Blick auf die Sektorenkoppelung betrachtet. Dabei fällt auf, dass die von der Bundesregierung gesetzten Treibhausgas-Reduktionsziele von 80 bis 95% bezogen auf 1990 im Jahr 2050 in den entsprechenden Szenarien S85, S90 und S95 (die jeweilige Zahl gibt den Prozentanteil der Reduktion an) dazu führen, dass selbst 2040 noch einige Dutzend Terrawattstunden (TWh) Strom mittels Braunkohle erzeugt werden, während die minder klimaschädliche Steinkohle fast ganz aus dem Stromsektor verschwunden ist.
Es folgen mehrere Abbildungen, die den Einsatz der unterschiedlichen Energieformen nach den verschiedenen Sektoren aufschlüsseln, so: Zusammensetzung der Stromverwendung (Abb. 2), Endenergienachfrage für Raumwärme und Warmwasser (Abb. 3), Endenergienachfrage des Verkehrs (straßengebundener Verkehr, Luftverkehr und Binnenschifffahrt, Abb. 4), Endenergienachfrage der Industrie (industrielle Prozesswärme, Abb. 6), und schließlich: CO2-Emissionen des gesamten Energiesystems (Abb. 7) – alle Punkte jeweils aufbereitet für die Jahre 2030, 2040 und 2050 sowie für die Szenarien S85, S90 und S95 .
Auffällig ist, dass bei der Endenergienachfrage des Verkehrs nur straßengebundener Verkehr, Luftverkehr und die Binnenschifffahrt aufgeführt werden, während sowohl der Schienen- als auch der Seeverkehr außen vor bleiben, obgleich letzterer einen Großteil des Transportvolumens abarbeitet. Der Satz „Die höhere Wandlungseffizienz der batterie- und wasserstoffelektrischen Antriebskonzepte wird durch die Zunahme der Verkehrsleistung kompensiert“ macht deutlich, dass die Institute weiterhin von einer massiven Ausweitung des Verkehrs ausgehen, obgleich es mit dem HomeOffice und dem Rapid Manufacturing durchaus gesellschaftlich gegenläufige Tendenzen gibt.
Abbildung 5 „Zusammensetzung von Methan ... und flüssigen Brenn- und Kraftstoffen ... im Energiesystem 2050 für die Szenarien S85, S90 und S95“ zeigt klar, dass Deutschland nach den offiziellen Szenarien weiterhin eine energetische Abhängigkeit vom Ausland in Kauf nimmt, indem es – statt auf eigenerzeugte 100% Erneuerbare Energien zu setzen – auch 2050 noch große Mengen an gasförmigen und flüssigen Brenn- und Kraftstoffen importieren will. Auf die Problematik dieses Ansatzes haben die DGS-News wiederholt hingewiesen. Und doch stammen selbst beim anspruchsvollsten S95-Szenario noch 2050 rund 55 % der gasförmigen und über 80 % der flüssigen Stoffe aus Importen (+Fossil). Immerhin halten die Autoren eine autarke, nationale Energieversorgung für theoretisch denkbar – aber zu teuer (S. 10).
Wenngleich die Importe z.T. aus Brennstoffen für die Wärmeversorgung und Industrie bestehen, so hat doch der Kraftstoff-Anteil für den Verkehrssektor einen ausschlaggebenden Anteil. Die Autoren fokussieren sich hierbei auf die drei Szenarien S90 (s.o.), S90-BEV (S90 mit erhöhten Anteilen batterieelektrischer Antriebskonzepte) und S90-OLKW/BEV (S90-BEV mit zusätzlichem Anteil an Oberleitungs-LKW). Hinter den ambitionierten Szenarien-Titeln steckt allerdings der Gedanke, den Verkehr für eine Übergangszeit (2025 bis 2040) auf – wenngleich zunehmend erneuerbares – Methan umzustellen. „Erst später dringen batterie- und wasserstoffelektrische Antriebskonzepte, ... in den Markt und dominieren im Jahr 2050 die PKW-Flotte“ (S. 11). Die folgende Durchdeklination der drei Szenarien für PKW und LKW (Abb. 8) zeigt überdeutlich, dass der überwiegende Teil der Szenarien-Modellierungen selbst noch 2040 einen erheblichen Anteil fossiler Energien beinhaltet, also angesichts der klimatischen Entwicklungen nicht überhaupt tragbar ist.
Die Autoren begründen das zum einen mit ihren Annahmen der spezifischen Kosten der neuen Antriebssysteme, die sich erst um 2040 denen der Fossil-Antriebe annähern würden, zum anderen, dass wegen der auftretenden Lastspitzen „eine vollständige Versorgung des Verkehrssektors ... mit ‚direktem‘ Strom nicht als realisierbar erscheint“ (S. 12 f.). Hier rächt sich, dass die Bereiche Schiene und Schiffsverkehr hier keiner detaillierteren Analyse unterzogen wurden (S. 15), und so die hier liegenden Potentiale insbesondere für die Umsetzung der Klimaverantwortung im Lastverkehr nicht deutlich werden. Erst im Bereich der Kostenperspektive und der regulatorischen bzw. rechtlichen Schlussfolgerungen findet der Schienenverkehr entsprechende Beachtung (S. 21, 28, 29). Mag es in der Langfassung der Studie dazu auch eine Begründung geben, in der Kurzfassung wirkt es willkürlich und befremdlich, zumal auch im Jahre 2040 die CO2-Emissionen des Verkehrs nach Berechnungen der Autoren immer noch bei wenig klimaverträglichen 100 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr liegen werden (Abb. 10).
Die durch die Szenarien aufgeworfenen Lösungsansätze werden nochmals unter dem Blickwinkel umfangreicher Kostenanalysen (TCO), regulatorischer Schlussfolgerungen für den Strom- und Verkehrssektor, Vertiefungsthemen wie steuerlicher Gestaltungen, Förderungen oder den Vorschlag eines „Erneuerbare-Kraftstoff-Gesetzes“ (EKraftstoffG) betrachtet und abgerundet.
Das Fazit plädiert für eine zunehmende und möglichst weit gehende Elektrifizierung des Verkehrs, in erster Linie durch direkte Nutzung des Stroms als effizientestem Weg, dann durch Wasserstoff (d.h. Brennstoffzellen) und erst später durch E-Methan und PtL-Kraftstoffe. Zudem solle die Transformation aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen möglichst frühzeitig angegangen werden. Schon dieses Fazit könnte das fossil-verliebte Verkehrsministerium veranlasst haben, die Studie doch lieber mit dem o.a. Disclaimer zu versehen.
Götz Warnke
[1] https://www.bmvi.de/SharedDocs/DE/Anlage/MKS/iek-2050.pdf