26.07.2024
Zahlen lügen nicht – Menschen irren
Eine Buchbesprechung von Götz Warnke
Schon im vergangenen Jahr wurde in den DGS-News ein Buch des kanadischen Wissenschaftler Vaclav Smil ausführlich und mit sehr positivem Ergebnis besprochen. Bereits 2020 hatte Smil das hier besprochene Buch auf Englisch publiziert, das dieses Jahr nun auf Deutsch erschienen ist. Es besteht aus 71 Kapiteln, die in sieben Themengruppen zusammengefasst sind: Menschen, Länder, Maschinen – Designs – Geräte, Brennstoffe und elektrischer Strom, Transport, Ernährung, Umwelt. Die einzelnen Kapitel sind zuvor im IEEE Spectrum publiziert und für das Buch teilweise aktualisiert/überarbeitet worden. Smil selbst bezeichnet sein Werk in der Einleitung als eklektisches, d.h. aus vorhandenem Material ausgewähltes und zusammengestelltes Buch. Häufig sind solche Bücher eine Art „Reste-Rampe“, aber das ist hier nicht der Fall.
Die Themengruppen und Kapitel sind immer erhellend und informativ, wenngleich längst nicht alle für den an Energiewende und Klimaschutz Interessierten relevant (z.B. Themengruppen 1-3). Dafür finden sich in den anderen Teilen eine Vielzahl überraschender Aspekte und Gedanken, die sich hier gar nicht alle aufführen lassen.
Originelles
Hier soll eine kleine Auswahl genügen:
S. 158 f. verweist Smil darauf, dass Windkraftanlagen zwar innerhalb eines Jahres ihre zur Produktion benötigte Energie wieder hereinholen – allerdings in Form von Strommengen, während für ihre Produktion nicht substituierbare fossile Energien und Rohstoffe benötigt würden. S. 161 f. beantwortet er die Frage nach der möglichen Größe von Windrädern einfach damit, dass er fragt, wann wir denn in der Lage seien, die für eine 50-MW-Anlage nötigen 275 m langen Rotorblätter fehlerfrei zu produzieren und sie in einer beinahe 1.000 Tonnen schweren Gondel in über 300 Metern Höhe sicher zu verankern. S. 176 f. berechnet er, dass bei einem E-Containerschiff für 18.000 Standardcontainer allein die benötigten Akkus 100.000 Tonnen wiegen würden. Auf
S. 183 f. zeigt er, dass selbst an der Wende zum 21. Jahrhundert der CO2 freisetzende Biomasse-Anteil an der weltweit genutzten Primärenergie immer noch 12 Prozent betrug! Die energetische Transformation dürfte nach Smil noch Jahrzehnte dauern, da 10 Milliarden Tonnen fossilen Kohlenstoffs zu ersetzen sind. Smil wendet sich mit Zahlen gegen die weltweite Lebensmittelverschwendung (S.235 f.), und belegt zahlenbasiert das langsame Verschwinden der mediteranen Ernährung (schlecht) und des steak-fixierten Amerikaners (gut). Der Rezensent endet hier – nicht etwa, weil es dem Buch an weiteren originellen Ideen ermangelt, sondern um den Lesern die Entdeckerfreude nicht zu nehmen.
Humor
Dass Smil einen zum Teil herrlich bissigen Humor hat, ist bekannt. Andererseits eignen sich kurze Fachessays, aus denen das Buch besteht, nicht sonderlich zum ausführlich-ironischen „Finger-in-die-Wunde-legen“ bei Dingen und Personen. Dennoch schafft es Smil, sich dem Lieblingsopfer seiner analytischen Denkweise, Googles Chef-Futuristen Ray Kurzweil, eine kurze Weile anzunehmen (S.37). Schön ist auch der Vergleich von der geringen Gefahr von Flugreisen mit dem Hochrisikogebiet der stillen, schönen Krankenzimmer (S.220). Ein besonders wundervolles Beispiel Smilschen Humors soll dem Leser hier nicht vorenthalten werden, wenn Smil beim Thema Brexit (Kap. 15) Großbritannien beschreibt als „eine weitere abgedankte Macht, deren Anspruch auf Einzigartigkeit sich nur noch aus dem Umstand ableitet, dass sie über zu viele in Schwierigkeiten geratene Prinzen und Prinzessinnen verfügt und historische TV-Serien exportiert, die in abblätternden Landhäusern mit zu vielen Dienstboten spielen.“ (S.79)
Fehler und Ungenauigkeiten
Wie bei jedem anderen Buch – insbesondere mit einem so breiten Themenspektrum – schleichen sich auch hier manche Fehler und Ungenauigkeiten ein:
Beim Thema der weiterhin für Länder wichtigen Güterproduktion ist es sicher richtig, dass in Irland viele produzierende Konzerne ihren Firmensitz haben, aber die Produktion findet eben woanders statt, und ein Firmensitz ist schnell verlegt. Bei der Historie und Würdigung des Dieselmotors (Kap. 25) übersieht Smil, dass es auch für den weltweiten Massengut-Transport mit Windschiffen und E-LKWs sinnvolle Alternativen gibt. Erheblich Mengen Treibstoffe einsparen könnten hingegen Dieselmotoren, wenn man sie in Propellerflugzeugen statt der üblichen Düsenflugzeuge einsetzen würde. Ob die damit einhergehende Beinahe-Verdoppelung der Flugzeiten auch dem Vielflieger Smil (bisweilen 100.000 km/Jahr, S. 221) gefallen würde – darüber dürfen wir spekulieren. Beim Thema Batterien (Kap.38) fehlen die Natrium-Ionen-Akkus, und damit die Speicher mit dem besten Preis-Leistungs-Verhältnis. Das Düsenflugzeug Heinkel He 178 war kein potentielles NS-Militärflugzeug (S.209), sondern ein reines, kleines Versuchsflugzeug, dem es zum Militäreinsatz an Reichweite und Platz für Waffeneinbauten fehlte. Im Gegensatz zu Smils Aussagen (S.303) erfüllen Luft-Wasser-Wärmepumpen selbst noch bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt (bis zu -10°C) ihre Aufgabe – auch ohne Heizstab; in Gegenden wie dem kanadischen Edmonton, wo die durchschnittliche Nachttemperatur laut Smil im Januar bei -18°C liegt, kann immer noch eine Wasser-Wasser-Wärmepumpe mit großem Eisspeicher funktionieren, dessen Eis man Sommer mit einem Solarthermie-Zaun schmilzt. Der Satz auf S. 304 unten „Am Ende des 20. Jahrhunderts überschritten die Emissionen …“ ist falsch; es müsste „Am Anfang des 20. Jahrhunderts …“ heißen.
Schwächstes/stärkstes Kapitel
Das schwächste Kapitel ist Nr. 48 „Wann begann das Düsenzeitalter?“: Neben dem o.a. Fehler mit der Heinkel He 178 wählt Smil den Transatlantikverkehr mit der Boeing 707 am 26.10.1058 als Start des Düsenzeitalters statt der ersten Linienflüge 1952 mit der britischen De Havilland DH 106 Comet. Smils Begründung, dass aus der Boeing 707 später eine Flugzeugfamilie hervorgegangen sei, kann hier nicht überzeugen.
Das stärkste Kapitel ist zweifellos Nr. 65 „Tiere versus Artefakte – wo herrscht größere Diversität“, in dem Smil einen Klassifizierungsansatz der menschengemachten Dinge in Form des Ordnungsschemas des Tierreiches unternimmt – Phylum/Stamm, Klasse, Familie, Gattung, Art – und das analog für elektrisch betriebene Artefakte (Stamm) bis hinunter zum Mobiltelefon-Produzenten (Gattung) und zum einzelnen Mobiltelefon-Modell (Art) durchführt. Das ist brillant, zumal in der Geschichte viele der besten Technologen wie Christopher Polhem, Johann Beckmann und Franz Reuleaux sich mehr oder minder erfolgreich mit dem Problem der Techniksystematisierung herumgeschlagen haben. Sollte Smil seinen Ansatz vollumfänglich ausformulieren, wäre das sicher spannend.
Desiderata/Wünsche
Neben der o.a. Klassifizierung gibt es noch weitere Dinge, die man sich als von Smil besprochen für das Buch gewünscht hätte: ein Vergleich der CO2-Emissionen von Bier und Wein hätte in Kap. 58 „Wein oder nicht Wein“ gut gepasst. Auch ein Beitrag zur Flächeneffizienz verschiedener Anbausysteme (z.B. Agriforste, Permakultur) zur Nahrungsmittelerzeugung hätte spannend sein können. Das gilt auch für einen Vergleich der Energieeffizienz dieselgetriebener Propellerflugzeuge versus Düsenflugzeugen. Ebenso erhellend wäre ein Vergleich der Grauen Energien verschiedener Erneuerbare-Energien-Systeme oder ein Vergleich der Flächeneffizienz ebendieser.
Fazit
Trotz einiger hinsichtlich der Energiewende uninteressanter Teile und leichter Schwächen ist dies ein höchst lesenswertes Buch, dessen Zahlen den Leser gegen manche Irrtümer und Illusionen wappnen.
Smil, Vaclav
Zahlen lügen nicht
71 Geschichten, um die Welt besser zu verstehen
Deutsche Ausgabe Verlag C.H.BECK, München 2024
Hardcover, 349 Seiten, Preis: 25,-- €
ISBN 978-3-406-81703-8