24.02.2023
Interview mit einem "Klimaterroristen"
Ein Gespräch zwischen Heinz Wraneschitz und Achim Scheidl
Klimaterroristen: Das Unwort des Jahres 2022 wurde von Leuten geprägt, die ganz offensichtlich nicht begriffen haben, warum sich Menschen zum Beispiel auf Straßenkreuzungen kleben und damit viel Aufmerksamkeit erzeugen.
Beispielsweise setzten sich am 22. Februar 2022, also genau vor einem Jahr, morgens um 7:20 Uhr insgesamt 13 Menschen blitzschnell auf einen Fußgängerüberweg der Abfahrt Jansenbrücke der „Frankenschnellweg“ genannten Autobahn A73. Die vielbefahrene Straße war danach stundenlang blockiert. Unter den Vieren, die sich sogar auf der Straße festgeklebt hatten, war der 56-jährige Solaringenieur Achim Scheidl. Am 25. Januar 2023 wurde er wie seine Mitklebenden vom Amtsgericht Nürnberg zu 40 Tagessätzen verurteilt.
Warum er bei der Aktion der „Letzten Generation“ mitgemacht hat, und warum er wie die anderen drei wegen „gemeinschaftlicher Nötigung“ Verurteilten gegen das Urteil in Berufung gehen, darüber hat das Extinction-Rebellion- und DGS-Mitglied Scheidl mit DGS-News-Redaktionsmitglied Heinz Wraneschitz gesprochen.
"Das Beste, was ich je getan habe"
DGS: Konkrete Frage gleich zum Start: Es gab vier Angeklagte in diesem Prozess. Am Ende hat die Richterin alle desselben Delikts für schuldig befunden, und alle mit der gleichen Strafe belegt, nämlich mit vierzig Tagessätzen. Nur deren Höhe hat sich unterschieden. Die Meinung dazu?
Scheidl: Dass alle dieselbe Zahl von 40 Tagessätzen bekommen haben, das finde ich gut so.
DGS: Also seid ihr mit dem Urteil einverstanden?
Scheidl: Nein, beileibe nicht. Denn die Richterin hat uns Verwerflichkeit vorgeworfen. Die Formulierung ist ziemlich platt. Wobei: Für verwerfliches Handeln 40 Tagessätze zu bekommen, das ist eigentlich recht wenig, das wäre grundsätzlich normalerweise akzeptabel. Da könnte man einfach zahlen und weg.
DGS: Aber ihr habt es ja nicht akzeptiert und seid alle in Berufung gegangen. Fühlt Ihr Euch also nicht schuldig?
Scheidl: Ich fühle mich schuldig im Sinne der Anklage, dass ich mich angeklebt habe. Wir haben das auch alle gestanden. Denn wir haben das bewusst gemacht. Ich fühle mich also schuldig, etwas Illegales gemacht zu haben. Ich halte dieses Tun aber nicht für verwerflich. Wir gehen in Berufung, weil die Richterin uns als verwerflich handelnd verurteilt hat.
DGS: Dafür bitte ich um Begründung.
Scheidl: Das Wort war für mich neu. Inzwischen habe ich gelernt, was verwerflich handeln bedeutet. Das tut zum Beispiel ein Mann, der eine schwangere Frau dazu zwingt, ihr ungeborenes Kind gegen deren Willen abzutreiben. Oder wenn jemand Amtsanmaßung betreibt, also mit seiner Macht Dinge durchsetzt, die ihm eigentlich nicht zustehen. Doch genau so wurden wir verurteilt. Ich gelte momentan als verwerflich Handelnder. Wir bestreiten jedoch nicht die Schuld. Das werden wir auch im neuen Prozess nicht tun.
DGS: Jetzt hatte aber die Staatsanwaltschaft (STA) einen ganz anderen Strafantrag gestellt.
Scheidl: Ja, die STA hatte eine Verurteilung wegen schwerer Nötigung gefordert, also eine Gefängnisstrafe, die auf drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt werden sollte. Damit wären wir dazu verdonnert worden, drei Jahre nichts mehr gegen die Klimakrise tun zu können. Dem ist die Richterin nicht gefolgt. Doch was mich in der Verhandlung schwer getroffen hat, war ihre falsche Beurteilung der Straßenblockade. Die haben wir seit 2019 perfektioniert. Eine Rettungsgasse halten wir immer frei, auch diesmal. Wir trainieren so etwas immer wieder.
DGS: Wie muss man sich den Ablauf vorstellen?
Scheidl: Auf die Straße gehen, das geht ratzfatz. Grüne Fußgänger-Ampel, innerhalb von Sekunden hat man sich hingeklebt. Dazu muss man wissen: Wir waren zwar 13 Leute, aber nur wir vier Verurteilten haben uns festgeklebt, die anderen haben nur so getan als ob. Das siehst Du nicht, auch die Polizei nicht. Dadurch waren sechs Meter Rettungsgasse frei. Das gilt bei uns immer. Im Gericht wurden Luftaufnahmen gezeigt. Da konnte man nachmessen, wie breit der Streifen war. Ja, der Stau ging ein paar Kilometer zurück. Doch das Problem war ein anderes: Die Autofahrer auf der Spur zur Jansenbrücke waren nicht in der Lage, eine Rettungsgasse zu bilden. Das aber hat die Richterin zum Anlass genommen, zu sagen: „Die Aktivisten haben sich bemüht, aber es hat offensichtlich nicht geklappt.“
DGS: Auf jeden Fall habt ihr sichtbare eine Wirkung erzielt – den Stau. Doch wenn Ihr nicht nur zu viert, sondern insgesamt 13 Antivist:innen wart: Was haben die anderen nach dem „Besetzen“ der Straße gemacht?
Scheidl: Da gibt es einen klaren Ablauf in drei Wellen, nicht nur bei dieser Aktion. Wir nennen es Aktionsbereiche A1 bis A3. Die von A1 stehen auf, sobald die Durchsage kommt, sich zu entfernen. Für die sind wir dankbar, denn dann schaut es nach mehr aus. Auch wenn man krank ist, steht man einfach mit auf. A2, das sind die, die sitzenbleiben und nein sagen. Nach der 3. Durchsage der Polizei lassen sie sich wegtragen. Die von A3 sind nicht wegzutragen. Die sind angekettet, angeklebt, sitzen auf einem Tripod oder exponiert, wo man sie nicht so leicht wegbekommt. Es dauert oft mehrere Stunden, bis man gelöst ist. Übrigens gibt es noch ein A0, das sind Leute, die gar nicht öffentlich, sondern im Hintergrund arbeiten.
DGS: Das klingt nach Organisation. Wie genau?
Scheidl: Es gibt verschiedenste Bewegungen. Ich bin eigentlich bei Extinction Rebellion XR Nürnberg. Wir sind schon lange aktiv, zum Beispiel mit dem Klimacamp vor dem Rathaus. Die letzte Generation ist eine Abspaltung von XR. Einige von denen haben beim Klimacamp angefangen. Eine der Hauptaktivisten der letzten Generation, Maja, die unter anderem auch auf das Brandenburger Tor in Berlin geklettert war, stammt aus Nürnberg. Die Aktion an der Jansenbrücke war die erste Aktion der Letzten Generation in Nürnberg. Ich war also quasi als Gast dabei. Nur Maja war echt „Letzte Generation“. Die andern 12 waren alle von XR.
DGS: Wieder was gelernt. Doch nochmal zur „Letzten Generation“: Ein Aktivist mit 57 Jahren gehört doch wohl zur vorletzten?
Scheidl: Das ist ein Missverständnis. die Letzte Generation ist immer die, die gerade lebt. Auch wenn jemand 90 Jahre alt ist, kann er etwas ändern. Und zwar für die nächste Generation – damit es für die nicht zu spät ist.
DGS: Dann frag ich mal konkreter zu den Forderungen. Wenn ich bei LG lese: „Im Angesicht des Klimakollaps brauchen wir jetzt ein Tempolimit von 100 km/h auf deutschen Autobahnen und ein dauerhaftes 9-Euro-Ticket“: Das kann ja wohl nicht alles sein, oder?
Scheidl: Da muss ich weiter vorne anfangen. Wir haben zehn Prinzipien, unsere „Gebote“. Die Basis ist Gewaltfreihalt, aber auch kein Alkohol gehört zu unseren Spielregeln. Wir stehen mit Namen und Gesicht zu unseren Aktionen, sind also auch nicht vermummt. Und wir bleiben da, bis die Polizei uns medienwirksam wegträgt. Wir geben denen auch gerne die Ausweise.
DGS: Prinzipien sind aber nicht Forderungen.
Scheidl: Stimmt. XR hat schon immer drei Forderungen: „Tell the Truth“ – also sagt die Wahrheit, „Act Now“ gleich handelt jetzt und „Beyond Politics“ – lebt die Politik neu, zum Beispiel mit einem Bürger:innenrat. Die Letzte Generation (LG) macht es anders, kleine Schritte, immer eine Forderung. Die erste war: Ein Gespräch mit Olaf Scholz, das hat ja stattgefunden. Die zweite Forderung war Essen retten, darum ging es auch vor einem Jahr auf der Jansenbrücke. Jetzt gibt es wieder neue Forderungen der LG.
DGS: XR ist also so etwas wie die Mutter von LG. Aber wie kam die hiesige XR-Gruppe überhaupt zusammen?
Scheidl: Ich kann nur von mir sprechen. Ich war fast 30 Jahre bei Greenpeace aktiv. Als XR im Frühjahr 2019 eine Riesenaktion in London gemacht hat, war ich begeistert. Ich hab gesucht, und bin damals auf eine Handvoll Leute hier gestoßen. Ich wollte einfach mehr machen als in den Jahren zuvor. Zumal ich auch von Greta und ihren Ansprachen mitgerissen wurde. Ja, die Fridays-Bewegung hat mich geflasht: Dass so junge Leute, dass Kinder auf die Straße gehen. Aber die waren zu jung für mich. Deshalb XR. Mit den Klimacamps fingen wir an. Heute sind wir knapp 50 Aktive, die planen und machen. Wir haben aber mehrere Hundert Unterstützer, die Hintergrundjobs machen, sich um Finanzen kümmern usw.
DGS: Und warum machen hier so viele mit?
Scheidl: Weil sich viele Gruppen nur um Natur- und Umweltschutz gekümmert haben, also um Wälder, AKW, Belugawale oder so, das ist ja gut. Doch die kämpfen ums Jetzt und Hier. Das Thema Klimagerechtigkeit hatten die aber lange nicht im Blick, weil das etwas Globales ist. Aber die Menschen im Globalen Süden baden es aus, was wir verursachen. Bei mir war es auch ein bisschen das schlechte Gewissen. Denn den Sprit mit meinem Diesel, die Flugreisen für den Arbeitgeber kann ich nicht mehr zurückholen. Aber jetzt kann ich viel tun, um andere zu überzeugen, um auf Regierungen und Industrie einzuwirken, es besser zu machen. Und natürlich Wissen über die Klimakatastrophe mitsamt gangbarer Lösungen zu verbreiten. Und um es selber besser zu machen.
DGS: Was sagt das familiäre Umfeld dazu, dass sich Achim Scheidl heute sogar an Aktionen der LG beteiligt?
Scheidl: Die sind begeistert. Wir sind inzwischen fast schon eine aktivistische Familie. Meine Kinder und ich arbeiten in verschiedenen Gruppen zusammen, meine Frau ist im Hintergrund dabei.
DGS: Wie ist die Veränderung zum klebenden Aktivisten passiert?
Scheidl: Langsam. 2020 hab ich das Klimacamp Nürnberg mit den Fridays und XR gegründet. Da waren wir mitten in der Altstadt ansprechbar. Das hat bei einigen funktioniert: Es hat sie nicht abgeschreckt, sondern dazu gebracht. Ein Jahr später haben wir etwas Offizielles, Niederschwelliges gemacht: Eine Mahnwache als angezeigte Versammlung beim Norisring-Autorennen. Im Lauf der Zeit hab ich 17 Versammlungen „angezeigt“, wie es juristisch heißt. Ich war also sehr brav. Doch bei den vielen Aktionen im Klimacamp wurde uns bewusst: Wir müssen provozieren, rumstänkern, nerven. Auch wenn der Bezug manchmal nicht so klar erkennbar ist, so wie beispielsweise an der Jansenbrücke. Es war eine Provokation, um Essen retten öffentlich zu machen: „Aufwachen, Ihr Schläfer in den Autos unter eurem Schutzschirm.“ So wie es bei der Tomatensuppe auf ein Van-Gogh–Bild darum geht, die zu wecken, die im Museum der Vergangenheit frönen. Leider haben wir es offenbar nicht fertiggebracht, dies zu vermitteln – auch nicht im ersten Prozess. Auch wenn ich im Gericht dazu etwas gesagt habe.
DGS: Gutes Stichwort Prozess. Wie habt Ihr Euch verteidigt?
Scheidl: Wir sind ja insgesamt 13 Angeklagte und wir haben alle Anwälte. Nicht nur meiner, der heißt Ilja Hecht, arbeitet umsonst, sondern alle. Vielleicht wollen die ja selber was machen, sie dürfen ja keinen zivilen Ungehorsam betreiben. Übrigens unterstützt uns auch die Kirche.
DGS: Rückblickend: Sieht der XR-Aktivist das Ankleben mit der LG heute als Fehler an?
Scheidl: Im Gegenteil! Das war eines der besten Dinge, die ich je in meinem Leben getan habe. Ich hab schon so viel gemacht, aber es hab nichts genützt. Ich habe durchblicken lassen, dass ich es jederzeit wieder tun würde. Meine Mitangeklagte Sarah hat das sogar wörtlich gesagt. In meinem letzten Wort lag mir sehr am Herzen, mich persönlich zu bedanken bei meinen Mitstreitenden, dass ich es mit ihnen machen konnte. Denn die anderen waren ja generationsübergreifend viel jünger als ich.