23.08.2019
Wie das Wetter seine Unschuld verlor
Am 12. August erschien in "Anthroposphere: The Oxford Climate Review" der Artikel: "How Weather Lost Its Innocence, an Illustrated History of Extreme Weather Attribution" von Kai Kornhuber & Amy Howden-Chapman.
Kai Kornhuber ist promovierter Wissenschaftler am Earth Institute der Columbia University, New York. Er promovierte in Klimaphysik am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) und an der Universität Potsdam. Zuvor arbeitet er am "Atmospheric Oceanic and Planetary Physics Department" an der Universität von Oxford. Seine Forschung widmet sich den internen Mechanismen der großräumigen atmosphärischen Zirkulation, ihren Verbindungen zu extremen Wetterereignissen und ihrer zukünftigen Entwicklung unter dem Einfluss des fortschreitenden Klimawandels. Amy Howden-Chapman ist Künstlerin, Autorin und Mitbegründerin von "The Distance Plan.org", einer Plattform, die sich für Klimaschutz durch Zusammenarbeit zwischen Kunst, Wissenschaft, Politik und Aktivismus einsetzt. Ihre Arbeiten wurden international ausgestellt. Howden-Chapman war 2016 DAAD-Stipendiatin am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung und unterrichtet derzeit am "Harry Van Arsdale Jr. Center for Labor Studies, SUNY", in New York .
Anthroposphere ist ein preisgekröntes interdisziplinäres Printmagazin, das an der Oxford University gegründet wurde und für Studenten aus aller Welt offen ist. Man beschäftigt sich dort mit Klimawandel und Umwelt und den Schwerpunkten Naturwissenschaften, Wirtschaft, Politik, Politik, Politik, Literatur, Popkultur und vielem mehr. Wir haben den äußerst interessanten und lesenswerten Text für Sie frei übersetzt.
Wie das Wetter seine Unschuld verloren hat
Eine veranschaulichte Geschichte der extremen Wettereinflüsse
Die Entdeckung des Extremwetters
Zwanzigtausend Todesfälle, große Verluste an Vieh, Waldbrände, Wasserknappheit und die Dezimierung der landwirtschaftlichen Produktivität auf dem europäischen Kontinent. Diese Bestandsaufnahme liest sich wie ein postapokalyptisches Katastrophenszenario, aber das Ereignis war alles andere als fiktiv. Die Hitzewelle von 2003 war die tödlichste "Naturkatastrophe" in der jüngsten europäischen Geschichte, und die Schwere des Ereignisses wurde zu einem großen Teil durch anthropogene Emissionen von Treibhausgasen verursacht. Wie kann Zerstörung so fest mit menschlichem Handeln verbunden werden? Der Zusammenhang wurde in Artikeln wie denen von Peter Stott, Myles Allen und Kollegen deutlich gemacht. Diese wurden allesamt in Form von sogenannten Peer Reviews, anonymen Bewertungen durch Fachkollegen, auch Kreuzgutachten genannt, geprüft. Sie kamen zu dem Schluss, dass es nun möglich war, abzuschätzen, inwieweit menschliche Aktivitäten das Risiko einer solchen Hitzewelle erhöht hatten, was zu einer neuen Teildisziplin in der Klimawissenschaft führte: Der Attribution, oder auch Zuschreibung von Extremwetterereignissen, im folgenden Text kurz als Attribution bezeichnet.
Die Attribution erfordert eine Klimamodellierung, bei der Wetterextreme in Computermodellen simuliert werden, die unter zwei Bedingungen, faktisch (factual) und den Fakten zuwiderlaufend (counterfactual), basieren. Faktische Szenarien stellen die Welt so dar, wie sie derzeit ist - beeinflusst von einem erhöhten Treibhausgasausstoß und einem entsprechenden Anstieg der globalen Mitteltemperatur. Gegensätzliche Szenarien hingegen gehen von einer Welt aus, die in den, ansonsten identischen Modellen, nicht von menschlichen Einflüssen betroffen gewesen wäre. Der Vergleich dieser beiden ermöglicht es, den menschlichen Beitrag zu einem bestimmten Wetterextrem einzuschätzen. Derzeit ist diese Methode für Hitzeextreme am zuverlässigsten, da Modelle eine gute Kenntnis der relevanten Prozesse aufweisen und die Reaktion von Hitzeextremen auf einen globalen Mitteltemperaturanstieg meist eindeutig ist.
Heute, fünfzehn Jahre und 30 ppm zusätzliches Kohlenstoffdioxid später, ist die Zahl der Attributionsstudien stark gestiegen, ebenso wie die Häufigkeit von rekordverdächtigen extremen Wetterereignissen aufgrund weitgehend ungeminderter Emissionen. Heute existiert die Analyse der Klimaattribution in verschiedenen Formen, von dem speziellen Jahresbericht des „Bulletin of the American Meteorological Society (BAMS)“ bis hin zur nahezu zeitnahen Attribution des „World Weather Attribution Project“ des ECI Oxford. Tatsächlich kann nun auch das erhöhte Risiko der menschlichen Sterblichkeit während der bereits erwähnten Sommerhitzewellen 2003 zuverlässig abgeschätzt werden.
So kann die Frage, die den Wissenschaftlern während eines Extremereignisses immer wieder gestellt wurde - "Wurde diese Hitzewelle durch den Klimawandel angeheizt" - mit zunehmender Sicherheit beantwortet werden. Mit dieser Einordnung von Extremwetter hat das Wetter seine Unschuld verloren.
Gelebte Erfahrungen mit dem Klimawandel
Der globale Klimawandel stellt eine Herausforderung dar, da er die menschliche Vorstellungskraft sowohl in zeitlicher als auch in räumlicher Hinsicht übersteigt. Da der Klimawandel und seine Auswirkungen meist über seine Extreme zu spüren sind, bilden Attributionsstudien die entscheidende Brücke zwischen wissenschaftlichem Wissen und gewöhnlichem Wissen dar. Der letztgenannte Begriff, der aus den Arbeiten der Wissenschafts- und Technologiestudien-Forscherin Sheila Jasanoff stammt, kann als Bewusstsein verstanden werden, das in gelebter Erfahrung verwurzelt ist. Attribution vermenschlicht und lokalisiert Daten sowie wissenschaftliche Erkenntnisse. Attribution leistet damit einen wesentlichen Beitrag zur Anerkennung des globalen Klimawandels und seiner verheerenden Auswirkungen als gelebte Erfahrung.
Diese Verortung von Klimawirkungen ist der Schlüssel zur Motivation einer politischen Reaktion auf Klimaschutzmaßnahmen. Die Menschen müssen "ihr" gelebtes Ereignis im Zusammenhang mit dem umfassenderen Phänomen des Klimawandels als Auftakt zum Handeln sehen. Wie Elinor Ostrom und ihre Kollegen in ihren Forschungen zum Management von gemeinschaftlichen Ressourcen feststellten, sind es Gemeinschaften, in denen ein lokales Umfeld persönlich geschätzt wird, in denen die Mitglieder der Gemeinschaft eher geneigt sind, Abwehrmaßnahmen gegen wahrgenommene Bedrohungen zu ergreifen (siehe auch: Wem gehört der Himmel, SE 4|17). Durch die Beeinflussung der Erzählung von gelebten Erfahrungen kann die Zuschreibung daher das Verständnis des Klimawandels verändern - und eine quantifizierbare Verbindung zwischen einem abstrakten Konzept und unserer konkreten Gegenwart herstellen.
Das Timing ist entscheidend für die Herstellung solcher Verbindungen zwischen dem „Erstlingswissen“ und den globalen Klimasystemen. Frühe Attributionsstudien, wie sie von Peter Stott und Kollegen sowie in den Sonderausgaben des „Bulletins der American Meteorological Society“ gesammelt wurden, konnten erst mit erheblicher Zeitverzögerung - mindestens ein Jahr nach Eintritt des betreffenden Ereignisses - veröffentlicht werden. In den letzten Jahren hat sich die Zeit zwischen den Ereignissen selbst und deren Zuordnung zu menschlichen Aktivitäten, stark verkürzt. Heute werden zunehmend Attributionsstudien bereits während des Extremereignisses erstellt, das sie zu reflektieren versuchen. Diese Eliminierung einer Zeitverzögerung wurde durch eine Kombination von Faktoren, wie einem besseren Verständnis der klimatischen Prozesse, ausgefeilteren Modellen und einer höheren Rechenleistung, ermöglicht. Dieser zeitliche Rückgang ist in erster Linie auf die Entstehung von speziellen Forschungsprojekten zurückzuführen. So wird beispielsweise bei Projekten wie „weather@home“ von ECI Oxford die Rechenleistung von Bürgern genutzt, welche die Rechenleistung ihrer Heimcomputer zur Verfügung stellen, um intensive Klimamodelle durchzuführen.
Die Verbindungen zwischen dem anthropogenen Klimawandel und dem Hurrikan Florence, der im September 2018 die Vereinigten Staaten traf, wurden in Echtzeit hergestellt. Der anthropogene Klimawandel manifestierte sich als wärmere Meeresoberflächentemperatur und zusätzlicher in der Atmosphäre verfügbarer Feuchtigkeit, was zu einem geschätzten Anstieg der Niederschläge um 50 Prozent im Vergleich zur kontrafaktischen Welt führte. Die von Florence ausgelösten Regenfälle verursachten einen geschätzten Schaden von 22 Milliarden Dollar in den US-Bundesstaaten North und South Carolina. Florence war der feuchteste tropische Wirbelsturm, der in dieser Region je 0verzeichnet wurde.
Kommunikation des Klimawandels
Eine demokratische Diskussion über den Zusammenhang zwischen bestimmten Wetterereignissen und dem Klimawandel hat das Potenzial, dass Wissen über den Klimawandel nicht nur von Experten, sondern auch von einer Reihe sozialer Akteure verbreitet wird. Simon Bushell hat festgestellt, dass "es essentiell ist, wer die Narrative vermittelt". Die Wahrscheinlichkeit, dass die Öffentlichkeit an Klimawissen glaubt, ist viel größer, wenn dieses Wissen von "verwandten" Personen stammt. So wie das Wetter oft ein zugänglicher Teil des täglichen Gesprächs ist, kann auch das gemeinsame Erleben eines extremen Wetterereignisses zu einem universellen Gesprächsstoff werden (ein kulturelles Phänomen, das in Ben Lerner's Roman aus dem Jahr 2014 "10:04" betrachtet wurde). Die schnelle Abschätzung anthropogener Beiträge zu einem individuellen Extrem hat neue Möglichkeiten für die Kommunikation über den Klimawandel eröffnet. Wenn ein direkter Zusammenhang zwischen Wetterextremen und Treibhausgasemissionen hergestellt werden kann, während diese Ereignisse noch im Rahmen des Nachrichtenzyklus und vor Ort diskutiert werden, wird die Wirkung einer bestimmten Veranstaltung zur Veranschaulichung der weiteren Entwicklung der Ereignisse verstärkt.
Im Rahmen dieser neuen Entwicklungen werden die TV-Wetter-Moderatoren in die Lage versetzt, Informationen über den Klimawandel zu präsentieren. Solche Moderatoren haben ein breites Vertrauen im gesamten ideologischen Spektrum und verfügen über eine Plattform, die ein großes Publikum erreicht. Traditionell scheuen sich die Meteorologen, sich mit Klimafragen zu befassen, so wie die Klimawissenschaftler darauf achteten, ein einzelnes extremes Wetterereignis nicht allzu stark zu betonen. Die Zuschreibung von extremen Wetterereignissen hat dazu beigetragen, diese Barriere zu durchbrechen. Wir erleben nun eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen Klimawissenschaftlern und Wettermoderatoren, die in der Regel ausgebildete Meteorologen sind. Dies zeigt auch das australische „Monash Climate Change Communication Research Hub“, das Klima-Grafiken erstellt, welche in Wetterberichte eingefügt werden. Dieses Projekt dient der Lokalisierung von Klimatrends und der Zusammenstellung von extremen Wetterereignissen als Element einer umfassenderen Klimageschichte. Viele Wetterexperten haben diese neue Rolle angenommen: "Climate without borders" ist ein internationales Netzwerk von Wetterexperten, dass sich der Ausbildung von Wetterexperten in der Klimakommunikation widmet. Unter dem Hashtag #MetsUnite#MetsUnite koordinieren sich Meteorologen, welche die "Warming Stripes" von Prof. Ed Hawkins zeigen, um das Bewusstsein für den langfristigen Anstieg der jährlichen Durchschnittstemperaturen weltweit zu schärfen. Die rechtzeitige Zuordnung hilft Wettermoderatorern, von Spekulationen zu quantifizierten Aussagen überzugehen. Aus diesem Grund planen große nationale Wetterdienste wie das UK Met Office, der Deutsche Wetterdienst (DWD) und das niederländische KNMI, die Attribution auch in ihre Wettervorhersagepläne aufzunehmen.
Die Zukunft der Attribution
Eine verbesserte Kommunikation über den Klimawandel kann zu besser informierten Bürgern führen, die wiederum mehr politisches Handeln fordern und zunehmend immun gegen Desinformationskampagnen von Industrie oder Status-Quo-Interessengruppen sind. Bereits heute werden Politiker vielerorts auf der ganzen Welt bei Wahlen oder auf der Straße aufgefordert, ihr politisches Handeln an den Emissionszielen des Pariser Abkommens auszurichten und die Bemühungen fortzusetzen, die globale Erwärmung am Ende des Jahrhunderts auf 1,5°C zu begrenzen. Die bisherigen Prognosen deuten stattdessen auf 3,5 bis 4°C oder mehr hin.
Zunehmend werden rechtliche Schritte unternommen, um politische Entscheidungsträger zu drängen, die Gesetzgebung mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen über notwendige Emissionsminderungen in Einklang zu bringen. Beispielhaft sei hier die niederländische Regierung genannt, die 2018 gezwungen war, offziell ihre geplanten Emissionsminderungen zu erhöhen. Durch die Bewertung eines bestimmten Wetterextrems können zukünftige Attributionsstudien dazu beitragen, die notwendigen Informationen für die Schadenregulierung bereitzustellen. Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass diejenigen Akteure, die entweder zu einer erhöhten Häufigkeit eines bestimmten Ereignisses oder zu dessen verstärkter Schwere beigetragen haben, damit rechnen müssen, haftbar gemacht zu werden. Wie man eine solche Haftung genau quantifiziert, muss noch entschieden werden (siehe "The Changing Face of Environmental Litigation" von Ming Zee Tee in Anthroposphere). Schon im Vorfeld rechtlicher Entscheidungen könnten solche Unternehmen jedoch mit Ansehensverlust und anderen Risiken konfrontiert sein. Es sei auch darauf hingewiesen, dass Unternehmen, die sich nicht auf Klimaextreme vorbereiten, unabhängig davon, ob sie zu Emissionen beigetragen haben oder nicht, bereits dem Risiko einer Rufschädigung ausgesetzt sein könnten.
Im August 2018 erlebte Schweden, wie viele Regionen der nördlichen Hemisphäre, Waldbrände und schwere, heiße und trockene Bedingungen, mit Temperaturen, die über den Extremwerten von 2003 lagen. Inmitten dieser Situation wurde in Stockholm, unweit des Ortes, an dem die Waldbrände tobten, ein Klimaprotest der Studenten initiiert, der sich seitdem zu einer globalen Bewegung entwickelt hat. Im Gegensatz zu 2003 waren im Sommer 2018 Wissenschaftler vorbereitet, so dass sie während der Hitzewelle eine Attributionserklärung abgegeben konnten, welche die Hitzewelle 2018 als "mehr als doppelt so hoch" schätzte, "als wenn menschliche Aktivitäten das Klima nicht verändert hätten". Martha Vogel und Kollegen bestätigten später diesen Befund und fügten dem öffentlichen Dialog an einen entscheidenden Punkt hinzu. Als dann 2019 die Sommertemperaturen wieder Hitzerekorde wie Dominosteine fallen ließen, wurden die Extreme schnell mit Attributionsstudien in Verbindung gebracht: 20 mal wahrscheinlicher, 100 mal wahrscheinlicher…
So liefern Attributionsstudien Hinweise auf das, was allgemein bekannt sein sollte: In dieser neuen Ära der Extreme wird praktisch jedes Hitzeextrem in seinem Auswirkungen durch die anthropogene Erwärmung verstärkt.