22.01.2021
Rund zehntausend Menschen protestieren für die Agrarwende
Ein Bericht von Tatiana Abarzúa
Fußabdrücke von Aktivisten, bunte, große und kleine, hängen vor dem Bundeskanzlerinnenamt. In mehreren Reihen, an langen Leinen festgebunden, wehen sie im rauen, winterlichen Wind. Auf mehreren steht: „Agrarindustrie abwählen“.
Der Protest des Bündnisses „Wir haben es satt!“ (WHES), für eine agrarökologische Wende und gegen Agrarindustrie und Massentierhaltung, findet zum elften Mal statt. Nach Veranstalterangaben hatten sich letztes Jahr 27.000 Menschen an der Großdemonstration beteiligt, die jährlich anlässlich der Agrarmesse Grüne Woche in Berlin stattfindet. Nun, während der Coronakrisenzeit, ist alles ein bisschen anders. Der Protest ist hybrid: Etwa hundert Aktive protestieren vor Ort, Landwirte aus dem Umland rollten mit rund 20 Traktoren durch die Hauptstadt. Geschätzt zehntausend Menschen haben Fußabdrücke und Forderungen zu Papier gebracht, die öffentlichkeitswirksam im Regierungsviertel an den aufgespannten Leinen zu sehen sind. Kurze Redebeiträge von Organisatoren der Protestaktion – Bäuerinnen und Bauern sowie Vertretern von Umwelt-, Natur- und Tierschutzverbänden – sind im Internet abrufbar. Auch die alljährliche Talkrunde „Soup & Talk“, die sonst bei der Heinrich-Böll-Stiftung stattfindet, ist digital.
Forderungen
Die Landwirtin Sandra Neuendorf kritisiert, dass nach wie vor „große Teil der Agrarförderung pauschal als Flächenprämie ausgezahlt“ werden. Sie fordert die Bundesministerin für Ernährung und Landwirtschaft Julia Klöckner, „und speziell ihre*n Nachfolger*in, auf: Schaffen Sie politische Rahmenbedingungen, die es uns Landwirten ermöglichen, eine umweltgerechte Landwirtschaft zu betreiben“. Elisabeth Fresen, Bundesvorsitzende der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft, sagt: „Vor 15 Jahren hat die Union das Landwirtschaftsministerium übernommen. Und seitdem mussten 130.000 Betriebe schließen. Für junge Existenzgründer*innen ist es fast unmöglich an Land zu kommen.“ Sie hat beobachtet, dass Boden zum Spekulationsobjekt geworden ist. Während die Landwirte lediglich Dumpingpreise für ihre Erzeugnisse erhalten. „Das Wachse-oder-Weiche wurde jahrzehntelang politisch gefördert – auch von der Union. Wir sind heute auf der Straße. Wir protestieren.“, so Fresen. In Ihrem Appel führt sie fort: „Wir Bäuerinnen und Bauern können die Basis sein für ein resilientes, regionales Ernährungssystem, wenn wir dafür faire Preise bekommen und wenn die politischen Rahmenbedingungen stimmen. Frau Klöckner: Nutzen Sie die Chancen der anstehenden Reform der europäischen Agrarpolitik. Knüpfen Sie die Subventionsgelder an konkrete ökologische und soziale Leistungen, an artgerechte Tierhaltung auf der Weide, an vielfältigen Ackerbau, an schonende Bodenbewirtschaftung. Setzen Sie die Subventionsgelder endlich im Sinne der Gesellschaft und im Sinne von uns Bäuerinnen und Bauern ein.“ Auch Saskia Richartz, Leiterin der Kampagne „Meine Landwirtschaft“, kritisiert die aktuelle Agrarpolitik. Sie sagt, dass die Landwirte „eine ganz klare Ansage an die CDU, an die Agrarministerin Klöckner und die Bundeskanzlerin [haben]: 15 Jahre unionsgeführter Agrarpolitik sind verantwortlich für das Höfe- und das Insektensterben.“. Olaf Bandt, Vorsitzender des Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), ergänzt, dass sich die Lage vieler Höfe verschlechtert hat, „weil ihnen vom Handel Erzeugerpreise aufgedrängt werden, die oft unter den Kosten liegen.“.
Allgemein bekannt ist, dass der Rückgang der Artenvielfalt unter anderem durch steigenden Einsatz von Pestiziden und agrarindustrielle Monokulturen verursacht ist. Viele Aktivisten kritisieren den Einsatz von Pestiziden auch weil dieser die Gesundheit der Menschen weltweit bedroht. An der diesjährigen Protestaktion ist auch Erileide Domingues, eine Sprecherin der Guaraní-Kaiowá, beteiligt, die ihre Erfahrungen mit dem Einsatz von Agrargiften in Brasilien beschreibt, und die Auswirkungen für die Gesundheit und für die Natur. Eine oft genannte Forderung, die auch am Ende des youtube-Videos eingeblendet ist, lautet, „dass Pestizidwirkstoffe, die in der EU aufgrund von Gefahren für Mensch und Umwelt nicht genehmigt sind, nicht länger in Länder des globalen Südens exportiert werden“ sollen. Das Umweltinstitut München kritisiert, dass Notfallzulassungen für Insektengifte (Neonicotinoide) erteilt wurden, die in der EU für den Einsatz im Freiland verboten wurden – wie Thiamethoxam. Weitere Forderungen der Agrarwende-Bewegung sind: „Tierfabriken stoppen – Stallumbau fördern & Tierzahlen reduzieren“, „Klimakrise bekämpfen – Fleischkonsum senken & gesunde Böden sichern“ und „Nein zum EU-Mercosur-Abkommen – Menschenrechte statt ungerechter Handelsabkommen“.
„Soup & Talk“, ein Teil des digitalen Bühnenprogramms, war sehr global vernetzt. Mit Teilnehmern aus Ländern, über deren Situation sonst aus deutscher Perspektive eher sehr selten etwas in der täglichen Berichterstattung zu erfahren ist, wie Griechenland, Indien, Venezuela, Kolumbien. Zuschauer konnten sich einen Eindruck davon machen, dass engagierte Aktivisten und Campaigner schon viele Schritte in Richtung Agrarwende gegangen sind. Von einem Berliner "Naschbalkon" mit frosthartem Winterpostelein, einem „essbaren Dorf“ in der Altmark, einen von Permakultur geprägtem Ökobauernhof in Frankreich, über mehrere Initiativen zum Erhalt von Saatgut – im Irak, in Syrien und eine Plattform auf europäischer Ebene (Link: www.seeds4all.eu/seed-distributors/) – und Sensibilisierung für den Bodenschutz, bis zu aktuellen Protesten von Bäuerinnen und Bauern. Da diese Veranstaltung ausschließlich online stattfand, können sich Interessenten die inspirierenden Erzählungen und Präsentationen jederzeit (wieder) anschauen.