21.10.2022
Könnte die Hauptstadt bis 2030 klimaneutral sein? Und wollen das die Wahlberechtigten?
Ein Bericht von Tatiana Abarzúa
Eine Rotwestenbewegung ist berlinweit unterwegs. Treffpunkte: in Parks, am Tempelhofer Feld und an anderen öffentlichen Plätzen. Mit Kugelschreiber und Klemmbrett in der Hand werben die Unterschriftensammler:innen des Bündnisses „Klimaneustart Berlin“ für ihr Projekt: Eine klimaneutrale Hauptstadt innerhalb von acht Jahren. Derzeit scheint das Ziel ihres Volksbegehrens jedoch nicht greifbar.
In der ganzen Stadt haben die Aktivisti ihre Plakate sichtbar angebracht (siehe Abbildung). Sie werben mit Sprüchen wie „Komm wir holen uns unsere Zukunft zurück!“ Manch eine:r Berliner:in antwortet spontan mit „Jehmnse her, untaschreib ick sofort!" ist zu lesen und zu hören. Doch worum geht es konkret?
Zielsetzung: Klimaneutralität 15 Jahre früher erreichen
Mit dem Volksbegehren möchte das Bündnis „Klimaneustart Berlin“ das Land Berlin durch Änderung des Berliner Klimaschutz- und Energiewendegesetz (EWG Bln) zur Erreichung der Klimaneutralität bis 2030 verpflichten. Derzeit ist im EWG Bln das Ziel festgelegt, dass die Hauptstadt bis spätestens 2045 klimaneutral wird. „Auf dem Weg dahin sollen die klimaschädlichen CO2-Emissionen bis 2030 um mindestens 70 Prozent und bis 2040 um mindestens 90 Prozent gegenüber dem Vergleichsjahr 1990 sinken“, wie die Senatsverwaltung für Umwelt, Mobilität, Verbraucher- und Klimaschutz informiert. Mit dem Gesetz möchte die Politik die Vereinbarungen aus dem Klimaschutzabkommen von Paris umsetzen. Die Initiator:innen des Volksbegehrens argumentieren, dass dieses Paris-Ziel einer Begrenzung der Erderhitzung auf 1,5°C bedeute, dass das Land Berlin „deutlich vor 2045 klimaneutral werden“ müsse.
Noch etwa ein Monat Zeit
94.959 Unterschriften. Mindestens so viele Unterschriften fehlen der Bürgerinitiative, um das erforderliche Ziel zu erreichen von sieben Prozent der zum Abgeordnetenhaus Wahlberechtigten.
Bereits einen Monat nach Beginn der Unterschriftensammlung war die Beteiligung, mit 8.650 Unterschriften, relativ gering, wie die taz berichtete. Im Netzwerk des Bündnisses engagieren sich derzeit etwa 300 Menschen, die aktiv Unterschriften sammeln, teilte die Sprecherin Jessamine Davis in einem Interview gegenüber der Zeitung mit. Am 14. November wird die viermonatige Eintragungsfrist enden. Eine aktuelle Prüfung der Bezirkswahlämter ergab, dass nur etwa 74 % der eingereichten Unterschriften gültig sind, wie die Landeswahlleitung Anfang der Woche mitteilte. Bei einer so hohen Anzahl ungültiger Unterschriften benötigen die Klimaschützer:innen weit mehr als etwa 175.000 Unterschriften. Auf Ihrer Website geben Sie als Ziel an, 240.000 Unterschriften zu sammeln. Unterschreiben können volljährige Berliner:innen mit deutscher Staatsangehörigkeit, die seit mindestens drei Monaten in der Stadt gemeldet sind.
Eine Volksinitiative muss mindestens 20.000 gültige Unterstützungsunterschriften erhalten. Diese erste Hürde hatte das Bündnis gemeistert: Sie erhielten 39.116 Unterschriften. Anschließend berieten sich Senat und Abgeordnetenhaus, und beide lehnten den Gesetzesvorschlag ab. Daraufhin folgte die zweite Etappe, eine erneute Unterschriftensammlung, und damit das eigentliche Volksbegehren. Wenn die Initiative die erforderlichen Unterschriften erhält, wird es in Berlin innerhalb von vier Monaten eine Abstimmung über die vorgeschlagene Gesetzesänderung geben – den Volksentscheid.
Zivilgesellschaftliches Bündnis für klimaneutrales #Berlin2030
Zum Unterstützer:innenkreis gehören über zwanzig zivilgesellschaftliche Organisationen und Initiativen, wie BürgerEnergie Berlin, Bürgerbegehren Klimaschutz, Grüne Liga, berlin autofrei, Fossilfree Berlin, Fridays for Future, extinction rebellion. Das Bündnis sieht sich als „parteiunabhängige, eigenständige und kritische Bewegung“, bei der sich Einzelpersonen, Bewegungen und Parteien anschließen können, die das gleiche Ziel haben. Dabei ist ihre „klimaneutrale Vision, unabhängig von Parteipolitik und Wirtschaftsinteressen“ wie sie auf ihrer Internetpräsenz erklären. Zwei Parteien gehören zum Bündnis: Grüne Jugend Berlin und Klimaliste Berlin.
Konkrete Klimaschutzziele: Haben
Vor drei Jahren initiierte „Klimaneustart Berlin“ die Erklärung einer Klimanotlage. Der Senat rief diese im Januar 2020 aus: „Der Senat stellt ausdrücklich fest, dass die fortschreitende Erderhitzung eine Klimanotlage darstellt, die zusätzliche Anstrengungen zugunsten des Klimaschutzes auch auf Berliner Landesebene erforderlich macht.“
Im gleichen Jahr veröffentlichte die Initiative zusammen mit der Organisation Germanzero einen „Klimastadtplan“. Bekannter wurde das Bündnis mit ihrer Forderung eines Klima-Bürger:innenrats, „der sozial gerechte Handlungsempfehlungen und Sofortmaßnahmen für ein klimaneutrales Berlin im Sinne des 1,5° Ziels des Pariser Abkommens entwickelt“. Einen solchen Rat hat das Abgeordnetenhaus im Mai 2021 einberufen. In mehreren Sitzungen erarbeiteten hundert zufällig ausgeloste Berliner Bürger:innen Handlungsempfehlungen für die Bereiche Mobilität, Gebäude und Energie zur Umsetzung der Klimaziele der Stadt (die DGS-News berichteten).
Konkrete Klimaschutzziele: Soll
Die Initiative fordert von der Politik, „ein gutes Leben auch im Jahr 2050 oder 2100 in Berlin zu ermöglichen“. Rein technisch sind die Lösungen vorhanden“, argumentieren die Initiator:innen. Etwa das Energieszenario der Studie „100% Erneuerbare Energien für Berlin-Brandenburg“ (Energy Watch Group), mit Ausbauzielen für Erneuerbare Energien von 12 GW für Windkraft, von 11,9 GW (Berlin) und 27 GW (Brandenburg) für Photovoltaik, 3,3 GW für Bioenergie und 0,7 GW für Geothermie.
Abstimmung in 2023 über Klimaneutralität bis 2030?
Sollte es zum Volksentscheid kommen, wird die Abstimmung voraussichtlich am selben Tag stattfinden wie die voraussichtliche Wiederholung der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus, der neue Landeswahlleiter Stephan Bröchler nannte den 12. Februar 2023 als möglichen Termin.
Wie es das Motto der Initiative auf den Punkt bringt: „Es ist nicht zu spät!“. Vielleicht rückt das Ziel eines Volksentscheids über Klimaneutralität in Berlin bis 2030 in den nächsten vier Wochen doch noch in greifbare Nähe.