21.01.2022
„Noch nie in der Geschichte wurden weltweit so viele Pestizide eingesetzt wie heutzutage“
Ein Einblick in die aktuellen Daten und Fakten von Tatiana Abarzúa
Zuerst eine gute Nachricht: Seit 2008 hat der Anteil der ökologischen Landwirtschaft in allen EU-Staaten zugenommen (siehe dunkelgrüne Pfeile auf dieser Karte). In Deutschland lag der Anstieg bei 2,4 Prozent (Bezugsjahr 2019). Was die umfassenden Informationen im kürzlich veröffentlichten „Pestizidatlas“ auch zeigen: Die eingesetzte Pestizidmenge steigt seit Jahrzehnten an. Seit 1990 um etwa 80 Prozent..
Pünktlich im Januar, den in Vor-Corona-Zeiten traditionellen Zeitpunkt einerseits der Internationalen Grünen Woche – die für dieses Jahr abgesagt wurde - und anderseits der „Wir haben es satt“-Demonstration (die DGS-News berichteten 2021), erscheint der „Pestizidatlas 2022“. Herausgeber sind neben der grünnahen Heinrich-Böll-Stiftung, die Vereine Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) und Pestizid Aktions-Netzwerk (PAN Germany) sowie die Monatszeitung Le Monde Diplomatique, deren deutsche Ausgabe unter dem Dach der taz produziert wird.
Vier Millionen Tonnen – pro Jahr
Laut Pestizidatlas wird die weltweit ausgebrachte Pestizidmenge auf circa vier Millionen Tonnen pro Jahr beziffert (Seite 10). In manchen Regionen erhöhte sich der Pestizideinsatz massiv, zum Beispiel in Südamerika um 144 Prozent (siehe Abbildung, Zeitraum 1999 bis 2019). Die vier größten Pestizidproduzenten sind Syngenta, Bayer, Corteva und BASF (Seite 10). Laut Atlas erzielten sie in 2020 zusammen einen Umsatz von 30,9 Milliarden Euro.
Im Vorwort betonen die Herausgeberinnen und Herausgeber, dass weltweit noch nie in der Geschichte so viele Pestizide eingesetzt wurden wie heutzutage. Sie weisen auch darauf hin, dass sie „Daten und Fakten für eine lebendige Debatte liefern“ möchten, damit wir den Herausforderungen aus der Klimakrise – wie die global zu erwartende Zunahme an Pflanzenkrankheiten, Schädlingsbefall und Extremwetterlagen – „auch mit weniger Pestiziden“ begegnen können.
Fast die Hälfte der eingesetzten Pestizide sind Herbizide (Unkrautbekämpfungsmittel), etwa 30 Prozent sind Insektizide (Insektenbekämpfungsmittel) und etwa 17 Prozent sind Fungizide (Mittel gegen Pilzbefall an Pflanzen). Der Marktwert von Pestiziden beträgt fast 84,5 Milliarden US-Dollar (Stand 2019). Die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate liegt seit 2015 bei etwa 4,1 Prozent. Für dieses Jahr wird laut Pestizidatlas eine höhere Wachstumsrate erwartet (11,5 Prozent), „und damit ein Anstieg auf fast 130,7 Milliarden US-Dollar“ (Seite 10).
Wie im Pestizidatlas zu lesen ist, liegt der Verkauf von Pestizidwirkstoffen in Deutschland seit Jahrzehnten „weitgehend unverändert hoch bei circa 30.000 Tonnen“ (Seite 44). EU-weit sind es rund 350.000 Tonnen, wie der BUND in einer Pressemeldung betont.
Dramatischer Anstieg in Ländern mit großer Artenvielfalt
Zudem steige der Einsatz von Herbiziden in Ländern mit großer Artenvielfalt an, wie Brasilien, Argentinien und Paraguay. Diese Entwicklung habe sich „dramatisch“ verstärkt, „seit der großflächigen Einführung von gentechnisch verändertem, pestizidresistenten Soja, das als billiges Futtermittel für die Tiermast eingesetzt wird“. Auch in Naturschutzgebieten finden sich Pestizidrückstände, und Tiere, etwa Meeressäuger an deutschen Küsten, „sind bis heute mit Pestiziden belastet, die seit 40 Jahren verboten sind“, wie der BUND erläutert.
Pestizidprodukte, die aufgrund ihrer Risiken keine EU-Zulassung haben, werden exportiert
Wie die Autorinnen und Autoren des Pestizidatlas erläutern, erneuert die EU bei vielen Pestiziden nicht die Zulassung aufgrund ihrer hohen Gefährlichkeit für Mensch und Umwelt. Trotzdem dürfen europäische Unternehmen solche Pestizide weiterhin in Länder außerhalb der EU verkaufen. Das bedeutet in konkreten Zahlen: 2018 und 2019 „haben EU-Staaten und das Vereinigte Königreich den Export von insgesamt 140.908 Tonnen an Pestiziden bewilligt, deren Ausbringung auf hiesigen Feldern wegen inakzeptabler Gesundheits- und Umweltrisiken verboten ist“. Bezogen auf Herstellern aus Deutschland seien 10.000 Tonnen hochgefährliche Pestizide exportiert worden. Basierend auf einer Studie von PAN, seien es im Jahr 2017 „mindestens neun Wirkstoffe ohne EU-Zulassung“ gewesen, die aus Deutschland exportiert wurden. Hinzu komme laut Atlas, „dass die deutschen Unternehmen Bayer und BASF in anderen Ländern Pestizidprodukte mit Wirkstoffen vertreiben, die in der EU nicht erlaubt sind – allein in Südafrika und Brasilien vertrieben sie laut einer 2020 veröffentlichten Studie eigene Produkte mit mindestens 28 solcher Wirkstoffe“ (Seite 36).
Die Wirkungsintensität ist entscheidend
Laut Atlas herrscht auf pestizidfrei bewirtschafteten Feldern ein fünfmal höherer Artenreichtum an Pflanzen und ein zwanzigmal höherer Artenreichtum an Bestäubern (Seite 27). Neben der ausgebrachten Menge und ihrem Verbleib in der Umwelt ist die Wirkungsintensität entscheidend. Laut Pestizidatlas „können moderne hochwirksame Pestizide aus ökotoxikologischer Sicht trotz geringerer Dosierung das gleiche Gefährdungspotenzial wie ältere Mittel in hoher Dosierung aufweisen. Daher fordern Umweltverbände seit langem nicht nur eine Reduktion der eingesetzten Menge, sondern auch das Verbot von besonders schädlichen Pestiziden“ (Seite 23).
Glyphosat
Da am 15.12.2022 die EU-Genehmigung für das Totalherbizid Glyphosat auslaufen wird, und die Hersteller ein Überprüfungsverfahren in der EU beantragt haben, ist es wichtig auch einen Blick auf dieses Breitbandherbizid zu werfen. In Deutschland wird Glyphosat auf fast 40 Prozent der Felder eingesetzt (Seite 22). Folgen davon sind: die Vernichtung der Ackerbegleitflora, eine Dezimierung des Blütenangebots und eine Verknappung der Nahrung für blütenbesuchende sowie auf Wildkräuter spezialisierte Insekten. Zudem zeigen Studienergebnisse aus den USA, dass die Kombination verschiedener Pflanzenschutzmittel „um ein Vielfaches schädlicher für die Bienen“ ist als die Pestizide für sich genommen.
385 Millionen unbeabsichtigte akute Pestizidvergiftungen
Im Atlas wird eine aktuelle Studie erwähnt, die in der Fachzeitschrift Public Health veröffentlicht wurde. Ein Ergebnis dieser Studie lautet: jährlich erkranken 385 Millionen Menschen in der Landwirtschaft unbeabsichtigt an akuten Pestizidvergiftungen. Die Symptome nach Vergiftungen: Sie fühlen sich schlapp, haben Kopfschmerzen, Erbrechen, Durchfall, Hautausschläge, Störungen im Nervensystem oder werden ohnmächtig; bei schweren Verläufen versagen Herz, Lunge oder Nieren. Etwa 11.000 Menschen in der Landwirtschaft sterben pro Jahr an den akuten Vergiftungen. In einer Stellungnahme hat PAN Germany darauf hingewiesen, dass die in der Studie ermittelte Zahl „auf Daten der Weltgesundheitsorganisation und der Auswertung von ca. 800 wissenschaftlichen Publikationen“ basiert, „von denen sich 157 brauchbar für die Datenextraktion erwiesen“. Es lagen Angaben für 141 Länder vor. Die Organisation erklärt in diesem Schreiben, dass „eine Verbesserung der Datenlage weiterhin dringend notwendig ist“ und die vorliegende Evidenz überzeugend deutlich mache, dass ein sofortiges Handeln zur Durchsetzung eines globalen Verbots hochgefährlicher Pestizide und zur Verbesserung des Arbeitsschutzes erforderlich sei.
Pestizidfreie Regionen
Eine für den Planeten erfreuliche Entwicklung ist, dass einige Regionen es geschafft haben, „ganz oder weitestgehend pestizidfrei“ zu wirtschaften. Beispielsweise haben sich in Deutschland „über 550 deutsche Städte und Gemeinden dazu entschieden, ihre Grün- und -Freiflächen teilweise oder vollständig ohne Pestizide zu bewirtschaften“. Manche Kommunen, wie Saarbrücken, sind „bereits komplett aus der Nutzung von Pestiziden ausgestiegen“. Auch in Italien, Belgien den Niederlanden und Luxemburg gibt es „pestizidfreie Zonen“. Dabei handelt es sich meist um kommunale Flächen „und noch nicht die landwirtschaftlichen Flächen“ (Seite 46).
Ein weiteres erfreuliches Beispiel ist der indische Bundesstaat Sikkim. Dieser „wird die erste Region weltweit sein, die wirklich zu 100 Prozent ökologisch produziert“. Das stelle einen enormen Paradigmenwechsel dar in einem Land, das jahrzehntelang auf den hohen Einsatz von synthetischen Düngemitteln und Pestiziden gesetzt hatte. Ausschlaggebend für die Entscheidung waren die Folgen, die der davor erfolgte massive Pestizideinsatz für die Menschen hatte: eine hohe Anzahl an Krebserkrankungen, verunreinigte Flüsse und unfruchtbare Böden.
Laut Atlas begründete die Politik die Entscheidung „damit, dass die Rückstände von Pestiziden – darunter viele, die in anderen Ländern verboten sind – die Grundnahrungsmittel Reis, Gemüse und Fisch verunreinigt haben“. Auch im indischen Bundesstaat Andhra Pradesh bahnt sich ein Paradigmenwechsel an. Dort ist geplant, „ spätestens ab 2024 ohne chemisch-synthetische Pestizide“ in der Landwirtschaft zu arbeiten (Seite 47).
Die Download-Adressen für den Atlas sind: www.boell.de/pestizidatlas, www.bund.net/pestizidatlas und www.pan-germany.org/pestizidatlas. Außerdem kann dieser im Klassensatz für den Unterricht bestellt werden.