15.10.2021
ITS – Verkehr der Zukunft?
Ein Bericht von Götz Warnke
Es könnte der Auftakt zu einem Gruselfilm sein: Ein einsamer, neonhell erleuchteter Bahnhof in der umgebenden Dunkelheit. Langsam nährt sich eine Vorortbahn. Doch auf dem Weg zur Einstiegstür stellt man plötzlich fest, dass nicht nur der erste Wagen fast menschenleer ist, sondern auch die Fahrerkabine: niemand sitzt auf dem Fahrersitz, kein Lebenszeichen kommt aus der Kabine.
Doch dieses ist kein Gruselfilmauftakt, sondern die Zukunft des Verkehrs, die in Hamburg schon begonnen hat. Digital gesteuerte S-Bahnen, wie sie diese Woche in Hamburgs Osten zwischen den Haltestellen Berliner Tor und Bergedorf/Aumühle auf Tour sind, sollen künftig eine deutlich engere Zugtaktung, und damit eine bessere Auslastung der Strecken ermöglichen. Das Anfahren, Beschleunigen, Bremsen und Anhalten, heute noch kontrolliert von Lokführern, erledigen die Normalzüge ganz von selbst. Das Besondere an diesem neuen System ist, dass es sich in eine beliebige S- oder U-Bahn einbauen lässt – ganz ohne spezielle Bahnkonstruktionen.
Eigentlich ist das Projekt auf den Linien S2/21 Teil des Vorhabens "Digitale Schiene Deutschland" der Deutschen Bahn, und soll mit vier Zügen seinen Regelbetrieb in diesem Dezember aufnehmen. Dass man es jetzt schon bewundern kann, liegt am ITS-Weltkongress, der diese Woche in den Messehallen von Hamburg stattfindet. Er gilt als weltgrößter Verkehrskongress; allein aus Hamburg präsentieren sich über 40 entsprechende Projekte.
Das Kürzel „ITS“ steht dabei für „Intelligent Transport Systems“, und das umfasst eine Menge unterschiedlicher Bereiche:
- Routenplanung, insbesondere die entsprechende Software: Denn was nützt z.B. die schönste, digitalisierte Buslinie, wenn sie zeitlich nicht optimiert ist, und nicht die Punkte mit dem entsprechenden Kundenaufkommen anfährt. Ähnliches gilt auch für den Fahrradverkehr, wo eine entsprechende App hilft, tagesaktuell die schnellste Route mit dem wenigsten Verkehr und ohne Baustellen heraus zu finden.
- Sensorik: Erkennen, dass und was einem entgegen kommt oder im Weg steht, und wohin man automatisch ausweichen kann, ist das A&O des automatisierten, digitalen Verkehrs. Hier stehen insbesondere Radar- und Lidargeräte sowie andere optische Sensoren im Vordergrund.
- Connectivity und Datensicherheit: Um einen möglichst hohen Nutzen zu generieren, müssen die Teilsysteme miteinander kommunizieren können. Ein Papierkorb im Park kann dem Müll-Rover melden: „Ich bin voll, und muss geleert werden.“ So muss der Müll-Rover seine Antriebsenergie nicht darauf verschwenden, sämtliche Papierkörbe im Park abzuklappern. Und ein autonomer Container-E-Waggon auf dem Rangierbahnhof muss melden können, wenn er einen Achsschaden hat, damit die anderen E-Waggons sich unabhängig von ihm zu einem Zug zusammenfinden können. Schließlich: Datensicherheit ist insbesondere im autonomen Personentransport ein hohes Gut. Eine autonome Personendrohne, die von Hackern gekapert in ein Hochhaus fliegt, wäre ein verkehrspolitischer Alptraum im digital-autonomen Kosmos.
- Fahrzeug- und Infrastruktur-Hardware: Autonome Kleinbusse im neuen Design, Müllsammelroboter, die den gefundenen Straßenmüll analysieren und mittels Ärmchen in die mitgeführten Behälter für Bio-, Papier-, Recycling- oder Restmüll sortieren können, Taxidrohnen (Urban Air Mobility), Hyperloopsysteme für Container, und eine Einschienen-Container-Stelzenbahn CMD vom Bauunternehmen Max Bögl (natürlich aus klimaschädlichem Beton) – die Messe präsentiert eine große Vielfalt aus mehr oder weniger realistischer Hardware. Das ist aber auch nötig für eine Stadt, in der z.B. täglich 6.000 Diesel-LKW durch den Hafen rollen.
- Business-Modelle und Versicherungen: Die o.a. Menge an neuer, unterschiedlicher Technik macht deutlich, dass solche Innovationen nicht aus der Portokasse finanziert werden können, sondern ein solides Geschäftsmodell brauchen – und auch versichert werden müssen.
Wegen der Vielzahl der Bereiche und der Bedeutung als internationale Verkehrsmesse findet sich hier die ganze Breite von Unternehmen und Institutionen, die traditionell, zentral, seit neuestem oder auch nur marginal mit dem Verkehrsthema zu tun haben: Neben Großkonzernen wie u.a. VW, Bosch, Honda, Siemens und Shell finden sich Forschungsinstitutionen wie das DLR oder die Fraunhofer-Gesellschaft, Universitäten, IT- und Logistikunternehmen, Länderstände wie von Frankreich, Korea, Japan, Taiwan oder der deutschen Bundesländer, Hersteller von Land- und Luftfahrzeugen, und, last but not least, eine Fülle von interessanten Startups, die man allerdings etwas abseits in Halle B 3 verbannt hat. Dazu kommt das homePort-Gelände südlich der Elbe für technische Demonstrationen.
Einige Trends und Themen haben auf der Messe besonderes Gewicht:
- MaaS (Mobility as a Service): Hier gibt es bereits viele Carsharingdienstleister, und auch, unter dem Stichwort Ridesharing bzw. Ridepooling, neue Anbieter wie Moia oder Ioki. Ebenso sind nicht nur die Fahrzeuge zu autonomisieren, sondern auch die Systeme zu vernetzen – sowohl was das „Nutzererlebnis“ anbelangt als auch bezüglich des Bezahlens. Neu ist die Hamburger Genehmigung für das Startup Vay, ab nächstem Jahr E-Autos ferngesteuert zu den Kunden zu bringen, die sie per App bestellt haben. Bei dieser Form des halbautomatisierten Fahrens sitzt der Fahrer in einem Büro vor einem großen Bildschirm und lenkt das Auto fern. Vorteile: Im Gegensatz zu vielen anderen Carsharingdiensten stehen die Autos nicht in der Gegend herum, was Fahrzeuge spart. Und der Fahrer muss sich nach Auslieferung nicht auf den Rückweg zur Zentrale machen, sondern kann schon Sekunden später das nächste Fahrzeug ausliefern.
- Autonomes Fahren: Hier gibt es Schnittmengen zu MaaS, aber auch gewisse Unterschiede. Die auf der Messe präsentierten Test- und Versuchsautos waren zumeist Fossil-Fahrzeuge und somit fest in der alten Autowelt der meisten Markenhersteller verhaftet. Neue, elektrifizierte Systeme finden sich eher bei Liefer-, Säuberungs-, Inspektions- und Löschrobotern. Originell ist der digitale „Blindenhund“ in Form eines Rollators, der Sehbehinderte sicher an ihr Ziel bringen soll. Der Prototyp der Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaften ließe sich – modifiziert – auch für andere Aufgaben wie z.B. Essensauslieferungen einsetzen.
- Platooning: Die Idee dabei ist, Fahrzeuge in einer digital aufeinander abgestimmten Kolonne fahren zu lassen. Während im ersten Fahrzeug auf absehbare Zeit noch ein Fahrer sitzt, fahren die folgenden rein digital – beschleunigen, abbremsen und der Spurwechsel folgen automatisch dem Beispiel des führenden Fahrzeugs. Vorteil des Platoonings: durch die Digitalisierung können die Fahrzeuge sehr dicht aufeinander auffahren und so im Windschatten Antriebsenergie sparen. Das ist nicht nur für LKWs interessant, sondern auch PKW und selbst für E-Cargobikes, wie das Startup Ducktrain zeigt. Und auch die selbsttätige Zusammenstellung von E-Waggons zu einem Zug ist eine Form von Platooning.
- Drohnen und Urban Air Mobility: Drohnen sind nicht nur was für Hobbypiloten, sondern sie können auch sensible, aber schwer zugängliche Orte wie Hochspannungsleitungen, Windkraftanlagen oder große Containerkräne auf Schäden hin inspizieren. Und sie können medizinisch wichtige Waren wie Gewebeproben oder Medikamente blitzschnell und punktgenau transportieren. Neben diesen Drohnen und dem fast schon unvermeidbaren Traum vom Urban Air Taxi wurde auf der Messe erstmals eine öffentliche, dreiminütige Demonstration der weltgrößten Schwerlastdrohne VoloDrone gezeigt. Die Drohne mit einem Durchmesser von über 9 Metern kann eine beladene, insgesamt 200 kg schwere Palette über 40 km transportieren. Die Praxis solcher Prototypen führt offensichtlich auch andernorts zu mehr Realismus: Träumte noch vor wenigen Jahren die Führungsspitze der Hamburger Hafen und Logistik AG (HHLA) davon, Seecontainer mittels Drohnen durch den Hafen schweben zu lassen, so ist davon auf dem aktuellen Messestand nicht mehr die Rede; irgendeinem der Hafenlogistiker wird schließlich aufgefallen sein, dass selbst ein solcher Standart-Container bis zu 24 Tonnen schwer sein kann – und damit drohnenuntauglich. Jetzt beackert die HHLA den Binnenland-Versand von Containern mittels Hyperloop – „schaun mer mal“.
Originell auch hier wieder ein Startup in Gründung: Future Delivery möchte die Warenübergabe von Langstreckendrohnen zu Lieferdrohnen organisieren – und zwar in der Luft. Das hört sich im ersten Moment überraschend an, aber logistisch interessant ist es allemal – und deutlich realistischer als die fliegenden Seecontainer.
Auffällig allerdings ist bei diesem Verkehrskongress, dass Erneuerbare Energien bei diesem Verkehrskongress bis auf wenige Ausnahmen praktisch keine Rolle spielen: PV-Installationen kommen zwar beim Oslo Solar Vehicle von Infinite Mobility und bei der Smart Shuttle Station der spanischen CTAG vor, fehlen aber bei vielen Flugzeugdrohnen und autonomen Shuttlebussen, obwohl dort hinreichend Platz dafür wäre. Ein Grund ist sicher, dass bei ITS-Kongress der Schwerpunkt aus Sensorik und Software liegt, während der Bereich Fahrzeugbau unterbelichtet ist. Zum anderen mag es an dem verbreiteten Aberglauben liegen, man könne die Energiewende nur durch Energiesparen und Effizienz herbeiführen, um so die Klimakatastrophe zu vermeiden. Low Carbon Technologies können zwar einen Beitrag zum Ausstieg aus der fossilen Welt leisten, aber die endgültige Lösung in der Klimakrise sind sie nicht. Wenig ist eben mehr als nichts, und kann schon zu viel sein. Es braucht halt Zero Carbon Technologies, d.h. Verkehrsmittel, die zu einem deutlichen Anteil ihre Antriebsenergie selbst erzeugen – alles andere wäre zu kurz gesprungen. Und da reicht es eben nicht aus, sich nur auf IT zu konzentrieren.
Sicher, die IT im Verkehrssektor wird uns begleiten, und einen Beitrag im Kampf mit der Klimakrise leisten. Aber dazu hat sie noch einen weiten Weg vor sich, wie man auf der ITS immer während der Mittagszeit beobachten konnte: Vor den Essensausgaben bildeten sich Menschenschlangen wie vor 40 Jahren. Elektronische Vorbestellungen? Lieferroboter, die an den Tisch kommen? Fehlanzeige!