11.03.2022
Zeitenwende: Abschied von den Illusionen
Eine Kritik von Götz Warnke
Große Worte in der Politik sind immer mit großer Vorsicht zu genießen. Aber was an jenem Sonntag, dem 27.02.2022, im Deutschen Bundestag verlautbarte, war für Millionen Menschen so oder so eine Überraschung und eine Zäsur. Es waren nicht nur die Reden von der Regierungsseite, die urplötzlich einen gigantischen Militärhaushalt verkündeten, die überfällige Einhaltung der deutschen NATO-Verpflichtungen verhießen und sogar von Seiten des Bundesfinanzministers und FDP-(!)-Parteivorsitzenden die Erneuerbaren Energien als Freiheitsenergien bezeichneten. Auch auf den Abgeordnetenbänken klatschte so mancher, der noch wenige Wochen zuvor bei ähnlichen Worten der Regierenden schreiend aufgesprungen wäre. Doch das hier bemühte Wort der „Zeitenwende“ hat ja durchaus zwei Seiten: zum einen meint es Aufbruch zu neuen Ufern, zum anderen den Abschied von der Vergangenheit – von alten Positionen und Illusionen. Viele dieser Illusionen werden von der Masse der Bevölkerung erst im Zuge der Zeitenwende mehr oder minder als solche akzeptiert. Besonders wenn sie weit verbreitet sind und dem ökonomischen oder ideologischen Profit der Betroffenen dienen.
Militär und Frieden
Keine Illusion ist durch den russischen, Menschen- und Völkerrechte verachtenden Ukraine-Krieg deutlicher widerlegt worden als der Narrativ der Friedensbewegung „Frieden schaffen ohne Waffen“. Damit ist, um gleich Missverständnisse zu vermeiden, nicht die Friedensbewegung als ganze obsolet. Ihre Proteste gegen den Krieg und seine menschenverachtende Gewalt haben ja weiterhin ihre volle Berechtigung, da sie die Solidarität mit den Opfern ausdrücken und dem eigenen Ohnmachtsgefühl entgegenwirken. Nur zum Frieden tragen sie nichts bei, und man sollte sich deshalb von Seiten der Friedensbewegung nicht der Illusion hingeben, dass das eigene Gewünschte, Gesagte, Erträumte allein deshalb allgemeine Wirklichkeit werden kann.
Dass es die deutsche Friedensbewegung dabei besonders trifft, ist insofern nicht verwunderlich, als Deutschland schon immer ein Land der politischen Illusionen war.
In allen politischen Sonntagsreden zur deutschen Vergangenheit hört man, wie sehr gerade wir Deutschen doch aus den Verbrechen der NS-Zeit und insbesondere aus dem Grauen von Auschwitz gelernt hätten. Wenn man allerdings von anderer Seite hört, dass bis vor kurzem Juden mit Kippa und Schläfenlocken in Kiew sicherer waren als in Berlin, dann kommen einem gewisse Zweifel, ob man in Deutschland wirklich aus Auschwitz gelernt hat. Ähnliches gilt für die deutsche Friedensbewegung. Denn Auschwitz ist vor 77 Jahren nicht durch Sitzblockaden oder durch mit Kerzen um Kirchen laufende Kleriker befreit worden, sondern vom Militär – um präzise zu sein: durch ein Bataillon der 322. Schützendivision der Roten Armee mit einem ukrainischen Major an der Spitze. Die gern ignorierte Lehre aus Auschwitz heißt: wenn ein Aggressor nicht vor der Vernichtung einer Volksgruppe, einer Religion, einer Kultur zurückschreckt, ja vielleicht diese Vernichtung sogar beabsichtigt, dann gibt es zum gewaltsamen, militärischen Widerstand keine Alternative. Gewaltfreier Widerstand mag gegenüber zivilisierten Gegnern wirken, gegenüber Massenmördern u.ä. ist er kontraproduktiv. Die Lehre hätte man auch immer wieder aus den Völkermorden nach dem 2. Weltkrieg – von Biafra über Ruanda, Srebrenica und Dafur bis zu den Jesiden – ziehen können. Doch dem hat man sich verweigert und sich lieber in seiner eigenen, kuscheligen Friedlichkeit unter dem gern ignorierten Schutzschirm der NATO eingerichtet. Wenn heute aber ein angegriffener Staat sich auf dem in der UNO-Charta verbrieften Recht auf Selbstverteidigung beruft und zur Umsetzung dieses Rechts um Waffenhilfe bittet, ist der Aufschrei groß, um nur nicht die eigene Friedlichkeitsmoral mit der Realität konfrontieren.
Das Ignorieren des Militärs aus demonstrativer Friedlichkeit hat natürlich noch andere Folgen, und die betreffen das Klima und die Erneuerbaren Energien. Denn wenn man sich mit etwas nicht beschäftigen will, kann man es auch nicht analysieren. Und so ist der Klimafußabdruck des Militärs als Ganzem und der einzelnen Waffengattungen wie Waffensysteme praktisch unbekannt. Zwar gibt es immer einige Publikationen, die z.B. auf den extrem hohen CO2-Fußabdruck der US-Militärs beim Treibstoffverbrauch verweisen, aber taugliche Analysen inklusive aller Vorketten oder verschiedener Waffensysteme im Vergleich gibt es zumindest öffentlich nicht. Dabei kommen aus Richtung des Militärs immer wieder Gedanken, die sich mit der Verringerung der Emissionen beschäftigen. Doch generell ist heute das Nichtwissen um die Fakten und Daten zu den Klimawirkungen des Militärs eklatant. Es kontrastiert auffällig mit der Situation noch in den 1980er Jahren, als die Öffentlichkeit z.B. die Skandälchen und Skandale der Rüstungsbeschaffung intensiv unter die Lupe nahm.
Aus Sicht des Klimaschutzes und der Erneuerbaren Energien ist dieses „Schwarze Loch“ nicht weiter hinnehmbar. Einerseits ist das Militär heute zweifellos notwendig, andererseits muss es aber auch einen Beitrag zu den Klimakonflikten der Zukunft leisten. Und dies kann nur geschehen, wenn man das Thema der eigenen Klimagasemissionen öffentlich und offensiv angeht. Das erfordert aber zugleich die Bereitschaft der Erneuerbaren-Energien-Szene, sich aktiv und angemessen mit diesem Themenbereich auseinander zu setzen. Das ist in der Vergangenheit – Stichwort: Friedlichkeit – viel zu wenig geschehen. Dabei ist es wie im Handwerk: wer an einer Totalrenovierung (Große Transformation) des Hauses arbeitet, kann sich auch nicht nur mit der Installation schicker, neuer Wasserhähne beschäftigen, sondern muss sich auch um schmutzige Dachrinnen und die Kanalisation kümmern.
Handel
„Wandel durch Handel“ heißt ein weiterer beliebter deutscher Narrativ, dessen Wahrheitsgehalt durch die aktuellen Ereignisse noch einmal deutlicher widerlegt wurde: nicht nur hatte der Westen trotz aller Sanktionen nach 2014 immer noch weiter Handel betrieben, obgleich die Demokratie in Russland zunehmend geschwächt wurde, sondern auch jetzt noch kauft man russisches Gas und finanziert damit den russischen Krieg. Kein Einzelfall übrigens: Auch mit Blick auf China ist die Wandel-durch-Handel-Ideologie wirkungslos geblieben: Heute gibt es dort einen fast absolut herrschenden roten Kaiser, eine unterdrückte Demokratiebewegung in Hongkong, ignorierte internationale Gerichtsbeschlüsse zum Südchinesischen Meer und hunderttausende Uiguren in Lagern. Die Negativbeispiele ließen sich mit dem Iran und vielen anderen Staaten fortsetzen. Denn auch dieser Narrativ dient nicht dem Frieden, sondern ebenfalls einer verlogenen Friedlichkeit: Hauptsache Ruhe und keine direkte Gewalt, zumal wenn sie einem selbst zugeschrieben werden kann. Frieden hingegen setzt Freiheit und Gerechtigkeit voraus. Davon aber kann man bei manchen Handelsgeschäften nicht reden, etwa wenn für das zur Schweinemästung hierzulande benutzte Soja in Brasilien Anbauflächen durchs Abbrennen des Urwaldes und Vertreibung indigener Gemeinschaften ausgeweitet werden.
Insbesondere die Erneuerbaren Energien haben unter dieser Handelsideologie gelitten, z.B. unter billigem Erdöl und billigen PV-Zellen aus autoritären Staaten. Sich auf die Erneuerbaren Energien im eigenen Land zu verlassen – sowohl in der Erzeugung als auch im Verbrauch –, ist nicht nur eine Frage der Energiesicherheit, sondern auch der politischen Handlungsfähigkeit. Was im Großen gilt, gilt auch im Kleinen: wer mit Solarthermie, PV und E-Fahrzeug auf Energieautarkie setzt, ist den Energiemärkten, Konzernen und fremden Interessen nicht mehr oder zumindest weniger ausgeliefert. Die Freiheit vom „Markt“ ist hier ein wichtiges Moment; insofern passt Christian Lindners Begriff von den „Freiheitsenergien“ gut.
Gas und Atom
Selten ist jemand so schwungvoll gestartet und so schnell als „Bettvorleger“ gelandet wie die EU-Kommission mit ihrer „grünen“ Taxonomie zur Einordnung von Gas- und Atom-Kraftwerken als nachhaltig. Obwohl natürlich bekannt war, dass Erdgas klimafeindlich ist, dass sich neue Investitionen in Gasenergie kaum vor dem notwendigen Ende der Gasnutzung zwischen 2035 und 2040 amortisieren werden, und dass Bundesländer wie Bremen sogar bis 2030 Abschied vom Gasnetz nehmen wollen, hat man in Brüssel auf diese Schiene gesetzt. Ebenso hat man ignoriert, dass Russland spätestens seit der Krim-Annexion 2014 eine nur noch eingeschränkt zuverlässiger Geschäftspartner war, und dass daher die jetzt schon überbordende Energieabhängigkeit vom Ausland – sei es von Russland oder anderen so „lupenreinen Demokratien“ wie Katar – eigentlich hätte permanent reduziert werden müssen. Sicher, nicht nur die EU-Kommission hat da eine Rolle gespielt, auch deutsche energiepolitische „Dunkelleuchten“ – vor allem aus Mecklenburg-Vorpommern – haben u.a. mit ihrem Einsatz für Nordstream 2 zur Illusion von Erdgas als „Brückentechnologie“ beigetragen.
Ökologische Schwindelprojekte wie „Blauer Wasserstoff“ und „H2ready“ erweisen sich nun als die Illusionen, die sie schon immer waren – nur erdacht, um das profitable Fossil-Kasino möglichst lange weiter laufen zu lassen. Doch selbst jetzt noch werden mit Ziel einer Unabhängigkeit von russischem Gas neue Gasprojekte wie die LNG-Terminals im Brunsbüttel und Wilhelmshaven in Angriff genommen, obgleich bekannt ist, dass sie frühestens in 2 bis 3 Jahren einsatzbereit sind.
Nicht besser sieht es bei der Atomförderung aus: Uran ist der erste Energiestoff, der der Menschheit künftig ausgeht. Neue Atomkraftwerke zeichnen sich durch ausufernde Bauzeiten und explodierende Baukosten aus. Und zudem sind sie strategische Kriegs- und Terrorziele. Das alles hat die EU-Kommission nicht bei ihrer Taxonomie beeinflusst. Und jetzt kommt auch noch heraus, dass die europäischen Atomkraftwerke hochgradig von russischem Uran abhängig sind – „nur die dümmsten Kälber wählen ihre Schlächter selber“!
Fazit
So fürchterlich der Anlass dieser Zeitenwende ist, so bietet sie doch die Möglichkeit, aber auch die Notwendigkeit, sich von überholten Illusionen zu trennen. Denn wer sich nicht von seinen Illusionen trennen kann, läuft in eine vom österreichischen Psychologen Paul Watzlawick so schön beschriebenen Psychofallen - mit allen realen Folgen für sich und Mitwelt.