10.07.2020
Kipppunkte, politisch und klimatologisch
Eine Analyse von Matthias Hüttmann
Stabilität auf tönernen Füßen: Vieles in unserem Leben und in unserer Gesellschaft ist weder beständig noch vorhersehbar. Obwohl wenn wir das oft gerne so hätten. Der Wunsch nach Stabilität ist allgegenwärtig. Auch wenn es gleichwohl Lebensbereiche gibt, bei denen Veränderungen erwünscht sind, geben gewohnte Abläufe Sicherheit und die gilt es zu wahren. Besonders sensibel reagieren wir auf alles, was unseren materiellen Wohlstand betrifft. Die Angst vor einem, wie auch immer gearteten Abstieg, ist nicht zuletzt auch wegen Auswirkungen auf den sozialen Status eminent. Selbst Mitmenschen, die unter schwierigen sozioökonomischen Bedingungen leben, sprechen sich gegen große Umwälzungen aus, auch wenn sie dazu sicherlich nur selten gehört werden. Folglich trauen sich PolitikerInnen kaum, große Veränderungen anzustoßen: Sie müssen befürchten, dass dies im Allgemeinen nicht belohnt wird, auch wenn das Ergebnis solchen Tuns letztendlich für die Mehrheit von Vorteil wäre.
Was genau unter Stabilität oder auch dem Status Quo zu verstehen ist und wie diese erhalten werden kann muss, an dieser Stelle gar nicht dargestellt werden. Jedoch sollte man eines bedenken: Stabilität kann nicht kurzfristig gesichert werden, sondern es bedarf stets einer langfristigen Projektion in die Zukunft. Nur so können Revolutionen vermieden werden. Hier liegt auch schon einer der Knackpunkte: Politik, die nicht viel ändert, suggeriert große Stabilität, obwohl sie diese gerade so nicht erreicht. So absurd das möglicherweise klingt: Ein „Weiter-so“ und das Vermeiden von Veränderungen führt mit großer Wahrscheinlichkeit zu größeren Verwerfungen und am Ende konkret zur Instabilität. Und leider finden genau diese Verwerfungen dann auch noch abrupt statt, lassen also wenig Spielraum zum Reagieren.
Auch die Klimaforschung spricht davon, dass die Wahrscheinlichkeit von besonders starken oder sogar abrupten Klimaänderungen zunimmt, wenn wir nicht rasch entsprechende Maßnahmen einleiten. Der immer knapper werdenden Zeit geschuldet können diese auch immer weniger sanft erfolgen. Dramatisch dabei ist: Wird nichts - oder wie aktuell nur sehr wenig - getan, werden kritische Schwellen im Klimasystem überschritten, die nicht mehr rückgängig gemacht werden können (siehe auch DGS-News vom 09.08.19: Point of no Return). Im Fachjargon nennt man diese Prozesse auch Kipppunkte, da bereits geringe Änderungen im Klimasystem bewirken können, dass sie erreicht werden. Die Folgen wären qualitative Änderungen unseres Klimas.
Dieser Problematik zum Trotz werden kaum einschneidende Maßnahmen ergriffen. Als argumentative Strohhalme werden häufig die folgenden politischen Fehleinschätzungen verwendet. Fehleinschätzung ist in dem Zusammenhang die diplomatische Variante, da es letztendlich ein Handeln wider besseren Wissens ist. Wenn nicht gar Unfähigkeit bzw. mangelnde Qualifikation dahinter steckt.
1. Ein klassisches Beispiel einer fatalen Denke ist zu glauben, dass wir lediglich bis zu einem bestimmten Datum unsere Treibhausgas-Emissionen auf Null reduzieren müssen. Der Weg dorthin wird gerne als weniger relevant erachtet, solange wir etwa bis zum Jahr 2050 klimaneutral werden. Jedoch ist das Datum des Erreichens der Nullemission bekanntlich gar nicht entscheidend. Zur Erreichung der Klimaziele darf nur noch eine bestimmte Emissionsmenge ausgestoßen werden; je länger man mit den Reduktionen wartet, umso radikaler muss gehandelt werden. Ist das Budget erst einmal ausgeschöpft, kann es nicht neu aufgefüllt werden. Möglicherweise kommt dieses Denken ja aus der Ökonomie oder dem Bankenwesen: Dort werden schließlich auch Werte bewegt, die es in der Realität gar nicht gibt.
2. Ebenso schönfärberisch ist genau genommen der Begriff der Klimaneutralität. Dahinter steckt eine Mogelpackung: So verursachen die zehn größten Industrieländer gemeinsam rund 66 Prozent der weltweiten Kohlenstoffdioxid-Emissionen. Wenn nun alle anderen Länder der Welt ihre CO2-Emissionen von insgesamt 34 Prozent mit Kompensationsprojekten auf Null senken könnten – eine schon irrwitzige Vorstellung – würden die CO2-Emissionen der zehn größten Industrieländer weltweit immer noch diese 66 Prozent betragen. Der Klimaschutz muss also schon „Made in Germany“ sein. Im Kern können die CO2-Emissionen nur durch Maßnahmen im eigenen Land gesenkt werden.
3. Gerne wird auch das Argument bemüht, dass es zu viele Menschen auf unserem Planeten gibt und diese vor allem für die hohen Emissionen verantwortlich sind. Jedoch sind in Wahrheit die oberen 10% der Einkommensbezieher der Welt für 25 bis 43% der Umweltbelastung verantwortlich, während die unteren 10% der Einkommensbezieher der Welt nur etwa 3 bis 5% der Umweltbelastung verursachen. Die Ärmsten der Welt haben einen vernachlässigbaren Einfluss auf die gesamte Umweltzerstörung. Sich auf ihren Konsum oder ihr Verhalten zu konzentrieren, ist ein törichter Fehler in der Umweltpolitik.
Klimatologisch gibt es eine Reihe von Kipppunkten, die wir zwar kennen, aber von denen nicht genau wissen, an welchem genauen Punkt sie sich momentan befinden. Eine aktuelle Analyse des Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung zeigt das sehr gut. Diese Unsicherheit wird gerne ausgenutzt: Eine neue sozialwissenschaftliche Studie hat analysiert, wie das konkret funktioniert. So werde zwar der kommende Klimakollaps anerkannt, der Handlungsbedarf aber relativiert. Die dabei verwendeten Argumentationsmuster lassen sich dabei auf vier Kernaussagen zurückführen.
• Zuerst muss jemand anders handeln.
• Klimaschutz geht auch ohne grundlegende Veränderungen.
• Konsequente Klimapolitik ist politisch und sozial nicht vertretbar.
• Umsteuern ist nicht mehr möglich.
Um zu der Quintessenz dieses Textes zu kommen: Auch auf dem politischen Feld gibt es Kipppunkte. Und die sind in ihrer Konsequenz dafür verantwortlich, dass ein Auslösen von Klima-Kipppunkten wahrscheinlicher wird.
Wenn etwa nach der Corona-Einschränkung das Wirtschaftswachstum zunächst einmal nahezu ökologisch unreflektiert hochgefahren werden soll, gibt es danach kaum mehr ein zurück: Die historische Chance würde vertan. Denn anders als in der aktuellen Situation ist es unter „normalen“ Umständen nahezu unmöglich, einen ähnlichen Zustand eines Neuanfangs, wie zu erreichen. Wir müssten auf eine weitere Katastrophe warten - ob die nun ökologischer, wirtschaftlicher oder gar politischer Natur ist.
Wenn etwa um den Amazonas in Brasilien vollendete Tatsachen geschaffen werden, die unumkehrbar sind, kann auch eine spätere Regierung diese nicht mehr korrigieren. Der zur Sojaplantage umgewandelte Regenwald ist durch keine Klimakompensationsmaßnahme mehr regenerierbar.
Hier könnte man jetzt noch viele weitere Beispiele nennen. Das Strickmuster der politischen Kipppunkte ist immer das gleiche: Die Politik schließt „Generationenverträge“, von denen jedoch nur eine oder zwei Generation profitieren, aber für die alle nachfolgenden Generationen bezahlen. In unbemerkter Verbundenheit mit den Profiteuren werden Entscheidungen getroffen. Es sind oftmals kleine Entscheidungen, die dazu führen, dass Prozesse in Gang gesetzt werden, die nicht oder kaum mehr rückgängig gemacht werden können.
Die andere Variante ist, dass Möglichkeiten ausgeschlagen werden, oder eleganter, nach hinten verschoben werden. Gerne wird auch der zweite Schritt vor dem ersten gemacht. Wenn etwa aktuell forciert auf Wasserstoff gesetzt wird, gleichzeitig aber der Zubau der Erneuerbaren ausgebremst wird, dann hat das durchaus System. Deshalb gilt es vermehrt auch auf kleine, unscheinbare politische Entscheidungen zu achten, und darauf, wo Chancen des Wandels ausgeschlagen und vertagt werden. Denn sonst behalten letztendlich diejenigen recht, die nur darauf warten uns zu sagen, dass ein Umsteuern jetzt nicht mehr möglich ist.