02.07.2021
Bürgerrat Klima: 95 % Ja-Stimmen für 100 % Strom aus Erneuerbaren Energien bis 2035
Ein Bericht von Tatiana Abarzúa
Vergangene Woche hat der zivilgesellschaftliche Bürgerrat Klima Handlungsfeld-Leitsätze und 84 klimapolitische Empfehlungen öffentlich vorgestellt. Diese richten sich nicht nur an die Abgeordneten, die im September in den Bundestag gewählt werden, denn der Zeithorizont geht über die nächste Legislaturperiode hinaus. Der erste der „übergeordneten Leitsätze“ ist, das 1,5-Grad-Ziel. Es lautet: „Jedes neue Gesetz ist auf seine Klimaschutzwirkung zu überprüfen und darf den Klimazielen nicht entgegenwirken. Klimaschutz ist ein Menschenrecht und muss ins Grundgesetz aufgenommen werden.“ Für den Klima-Bürgerrat gab es keinen offiziellen politischen Auftrag, daher ist die Politik nicht an die Empfehlungen gebunden. Allerdings kann der Bürgerrat „Veränderungsbereitschaft ausloten und so vielleicht Entscheidungen ermöglichen, die sonst nicht zustande gekommen wären“. Das sagt der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler als Schirmherr dieses Bürgerrats.
Dieser Beteiligungsprozess stellt eine neue Entwicklung in Deutschland dar. Dem Beispiel ähnlicher Bürgerräte in Frankreich oder Großbritannien folgend, setzte der gemeinnützige Verein BürgerBegehren Klimaschutz die Idee für einen zivilgesellschaftlichen Bürgerrat um. Vertreter der Initiative „Klima-Mitbestimmung Jetzt“ wiesen bei der öffentlichen Anhörung im Petitionsausschuss zu Ihrer eigenen Petition – für einen vom Bundestag einberufenen repräsentativen, unabhängigen Klima-Bürgerrat – auf diesen Aufruf von Scientists for Future hin und warben um Unterstützung (Die DGS-News berichteten).
Bürgerplenum
Wie Rabea Koss, Sprecherin des Klima-Bürgerrats, am Tag der ersten Sitzung mitteilte, seien die 160 ausgelosten Teilnehmenden repräsentativ für Deutschland, da sie „nach Alter, Herkunft, Bundesland, Bildungsstand, Geschlecht, Größe des Wohnorts ausgewählt und dann zufällig gelost“ wurden. Somit bringt diese Versammlung Menschen unterschiedlicher Lebensrealitäten miteinander ins Gespräch. Der Fokus der ergebnisoffenen Beratungen lag auf der Frage: „Wie kann Deutschland die Ziele des Pariser Klimaschutzabkommens erreichen – unter Berücksichtigung gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und ökologischer Gesichtspunkte?“ Insgesamt fanden zwölf Sitzungen statt, immer online, im Zeitraum vom 26. April bis zum 23. Juni. Hier fand ein Austausch mit Expertinnen und Experten statt, so dass alle Bürgerrätinnen und Bürgerräte informiert gemeinsam Maßnahmenvorschläge entwickeln konnten. Für das Handlungsfeld Energie referierte beispielsweise Professor Dr. Andreas Bett (Fraunhofer Institut für Solare Energiesystem) über Solarenergie in Deutschland. Die anderen Themenfelder sind: Mobilität, Gebäude und Wärme sowie Ernährung. Dabei wurden die Bürgerinnen und Bürger zufällig auf die Arbeitsgruppen zu den Handlungsfeldern verteilt. In diesen Gruppen erarbeiteten sie die vorgestellten Ergebnisse und handelten diese aus. Zum Bürgerrat Klima gehört auch ein Beirat mit Vertreterinnen und Vertretern aus Verbänden, wie dem Deutschen Mieterbund oder dem Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft. Nach eigenen Angaben ist der Bürgerrat über Spenden finanziert sowie Stiftungszuwendungen der GLS Treuhand, den Open Society Foundations und der Schöpflin Stiftung.
Erneuerbaren Energien
Die Bürgerrätinnen und Bürgerräte haben den Vorschlag, die gesamte Energieversorgung Deutschlands bis zum Jahr 2035 zu 70 % und bis 2040 zu 90 % aus Erneuerbaren Energien zu decken und im Stromsektor 100 % Erneuerbaren Energien bereits bis 2035 zu erreichen, mit 95 % angenommen.
Der Klima-Bürgerrat schlägt vor, „mindestens zwei Prozent der Gesamtfläche jedes Bundeslandes" für den Ausbau von Photovoltaik und Windenergieanlagen bereitzustellen sowie die verpflichtende Installation von Photovoltaik-Anlagen für „alle Neubauten" (ab 2022) und die Aufhebung der „derzeitigen Mindestabstände für Windenergieanlagen". Um mehr Flächen für den PV- und Windenergieausbau nutzen zu können, solle der Staat öffentliche Flächen wie stillgelegte Flughäfen, Tagebauflächen, ungenutzte Agrarflächen, Wasserflächen und Autobahnrandflächen zur Verfügung stellen. Industrielle Betriebe sollen verpflichtet werden, ihre ungenutzten Flächen aufzuforsten, etwa ehemalige Kohleabbaugebiete, „sofern für die Fächen keine andere klimafreundliche Verwendung vorgesehen ist“, so der Bürgerrat. Außerdem könnten landwirtschaftlich genutzte Flächen und Wasserflächen für die Stromgewinnung genutzt werden, beispielsweise für Agri-PV oder Floating-PV. Auch auf die Notwendigkeit einer genehmigungsrechtlichen Vereinfachung weist der Bürgerrat Klima hin, und auf die Aufnahme von Freiflächen-PV-Anlagen als „privilegiertes Vorhaben“ ins Baugesetzbuch".
Kommunale Klimaneutralität
Die erste Empfehlung aus dem Handlungsfeld Energie ist: „Jede Kommune muss bis 2023 unter Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger einen Plan zur Umsetzung der kommunalen Klimaneutralität im Energiesektor bis 2030 entwickeln." Einen sehr hohen Zustimmungswert von 97 % hat der Leitsatz für das Handlungsfeld Mobilität erhalten. Dieser fordert unter anderem: „Alle Maßnahmen und Entscheidungen von Bund, Ländern und Kommunen im Bereich der Mobilität müssen ab sofort mit oberster Priorität das Ziel der weitgehenden Klimaneutralität berücksichtigen.“ Dabei müsse der öffentliche Verkehr, Radverkehr und Fußverkehr Priorität vor dem motorisierten Individualverkehr haben und im Fernverkehr der Bahnverkehr vor dem Flugverkehr.
Der Bürgerrat Klima befürwortet ein Tempolimit – ein generelles Tempolimit von 120 km/h auf Autobahnen, 80 km/h auf Landstraßen und 30 km/h in Innenstädten. Hier lag die Zustimmung jedoch nur bei 58 %.
Vorschläge für einen „energiepositiven Wirtschaftsstandort“
Das Thema „Befreiung energieintensiver Industrien von der EEG-Umlage“ wird bei den Empfehlungen angepackt. Hier fordern die Bürgerräte und Bürgerrätinnen, diese Befreiung stufenweise rückgängig zu machen, „um Deutschland global als energiepositiven Wirtschaftsstandort zu positionieren“. Dabei sollen Teile der Mehreinnahmen genutzt werden, um gezielt Technologieinnovationen bei energieintensiven Industrien zu fördern.
Für den Kohleausstieg schlagen sie vor, diesen auf das Jahr 2030 vorzuziehen, im Zusammenhang mit einer Regelung über den europäischen Zertifikatehandel und einen erhöhten CO2-Preis.
In Bezug auf "CO2-bindende Renaturierung“ schlagen sie vor, diese über natürliche CO2-Speicher wie Moore und Bäume umzusetzen. Auf den Aspekt der Ressourceneinsparung zielt der Vorschlag einer Mindestgarantie von zehn Jahren für Elektrogeräte. Für diesen Zeitraum sollen Hersteller demnach „die Verfügbarkeit entsprechender Ersatzteile gewährleisten“. Das solle Anreize für qualitativ hochwertige Produkte schaffen und der Wegwerfgesellschaft entgegengewirken.
Wärmewende
Die Leitsätze für das Handlungsfeld Gebäude und Wärme erhielten mit 98 % eine höhere Zustimmung als bei der Mobilität. So fordert der Bürgerrat Klima „die Wärmewende durch begleitende Gesetzgebung und einer entsprechenden Finanzierung in den nächsten zwei Legislaturperioden entscheidend voranzubringen“. 74 % der Bürgerräte und Bürgerrätinnen stimmten für die Annahme des Vorschlags, die energetischer Gebäudesanierung von Wohngebäuden ab 2023 durch die Eigentümer/innen (20 %), Mieter/innen (10 %), den Bund (50 %) und Kommunen (20 %) zu finanzieren. Bei unvermieteten Wohngebäuden sollen demnach die Eigentümer/innen den Mietanteil übernehmen. Die Vermietenden sollen den Anteil der Mietenden als zeitlich begrenzten Bankkredit verwalten, welchen letztere monatlich abbezahlen. Zudem solle eine Mieterhöhung auf maximal 8 % begrenzt werden. Ab 2026 fordert der Klima-Bürgerrat ein Einbauverbot von Ölheizungen, ab 2028 von Gasheizungen. Zusätzlich solle die Regierung ein Ampelsystem für Heizungen einführen, damit besonders klimaschädliche Heizungen zuerst ausgetauscht werden.
Besser essen und Landwirtschaft als Vollerwerb
Mit 99 % erhielt der Leitsatz im Handlungsfeld Ernährungfür eine sofortige Umstellung auf eine klimafreundliche Landwirtschaft die höchste Zustimmung. Ergänzend fordert der Bürgerrat, Futtermittelimporte an kurze Transportwege zu binden und auf importierte Futtermittel zu verzichten, die für Rodungen und Landumnutzungen im Ausland verantwortlich sind. Mit 94 % wurde der Vorschlag angenommen, die genossenschaftliche Landwirtschaft zu fördern und Kleinbauern und Kleinbäuerinnen aus der Abhängigkeit von großen Nahrungsmittelkonzernen zu befreien. „Landwirtschaft muss sich als Vollerwerb für Bauern und Bäuerinnen wieder finanziell lohnen“, so die Empfehlung. Zudem fordert der Klima-Bürgerrat die Einführung einer Kennzeichnung von Lebensmitteln in Bezug auf die Klimaneutralität und Natürlichkeit der Produkte („Klimaampel“). Bei dieser soll der gesamte Prozess von der Erzeugung, über Transport und Verpackung bis Recyclingmöglichkeiten mit einfließen. Last but not least soll hier noch der Vorschlag erwähnt werden, „Werbung für klimaschädliche und ungesunde Produkte“ zu verbieten, etwa zwischen Kinder-Sendungen im Fernsehen.
Die Empfehlungen der Bürgerräte werden aus wissenschaftlicher Sicht durch ein Kuratorium von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Klima- und Gesellschaftswissenschaften bewertet.
Vor der Bundestagswahl sollen die Ergebnisse des Bürgerrat Klima in einem Gutachten zusammengefasst und den Parteien im Bundestag übergeben werden.