Eine Analyse von Götz Warnke

Bekanntermaßen sind die Erneuerbaren Energien in Deutschland hauptsächlich fluktuierende Energien: die Leistung von Sonnen- und Windenergie schwankt innerhalb des Tages- und des Jahresverlaufs. Und sehr selten gibt es Dunkelflauten, in denen keine der beiden Energien elektrischen Strom liefert. Für solche Situationen gibt es Stromspeicher – und natürlich die Wasserkraft, die eine kontinuierliche (24/7), grundlastfähige Energieform darstellt, und für die es in Deutschland nachweislich noch ein erhebliches Ausbaupotential gibt. Zudem ist es tendenziell sinnvoller, d.h. vom rohstofflichen und finanziellen Aufwand her günstiger, grundlastfähige Kraftwerke zur Stromerzeugung zu bauen, als Energiespeicher zu errichten, die nur für einen Teil des Tages Strom ausspeisen, d.h. Energie liefern können.
Außerhalb der Wasserkraft bleibt bisher nur die Bioenergie als grundlastfähiger Stromlieferant. Deren nachhaltiges Potential ist allerdings wegen des geringen natürlichen Massezuwachses und der Teller-oder-Tank-Problematik begrenzt; zudem wird die Bioenergie bereits in erheblichem Umfang zur Wärmeerzeugung genutzt.
Daher wäre es für die Energiewende eine große Erleichterung, wenn sich in der Natur noch ein weiterer, grundlastfähiger Stromlieferant finden ließe.
Polarlichter sind ein Phänomen, das die Menschen seit jeher fasziniert. Ob man sie früher als drohende Unheilszeichen der Götter deutete oder sie heute als physikalisches Naturschauspiel ansieht – das Flimmern der roten, grünen und violett-blauen Lichter ist beeindruckend. Polarlichter (Nord- und Südlichter) entstehen, wenn die Plasmapartikel des Sonnenwindes auf das Erdmagnetfeld treffen, dort elektrische Ströme induzieren, die an den Magnetfeldlinien zu den Polen geleitet werden, um dort wiederum die Sauerstoff- und Stickstoff-Atome der Erdatmosphäre zum Leuchten bringen. Dass der Sonnenwind dabei eine erhebliche Energie besitzt, zeigt sich nicht nur in der Größenverschiebung des Erdmagnetfeldes von der sonnenzugewandten zur sonnenabgewandten Seite, sondern auch in der Störung bis zur Zerstörung von Kommunikationssatelliten und der Störung ganz irdischer Telefonleitungen bei einer extrem starken Sonneneruption wie beim Carrington-Ereignis Anfang September 1859. Ein ähnlich gewaltiger Sonnensturm traf die Erde am 4. Februar 1872. Polarlichter können sogar Seismometer zum Schwingen bringen.
„Warum also diese Form der Sonnenenergie nicht auch nutzen“, ist ein Gedanke, der immer wieder mal auftaucht.
Die Idee ist viel versprechend: Der auf die Erde treffende Sonnenwind „weht“ des Tags wie des Nachts, auch wenn wir ihn nur bei Dunkelheit in den Polarregionen sehen können; er wäre also durchaus grundlastfähig. Seine Energie wird vom Erdmagnetfeld zu den Polen gelenkt und dort quasi konzentriert – und zwar unabhängig von der jeweiligen Jahreszeit, was bedeutet, dass am selben Tag sowohl in den Polargebieten der Nord- wie Südhalbkugel Polarlichter auftreten können.
Betrachtet man nun einmal auf einer Peters-Projektion die flächentreue Größenverteilung der Landmassen auf der Erde, so stellt man fest, dass die größten Polarkreis-Landmassen – abgesehen von der unwirtlichen Antarktis – auf der Nordhalbkugel liegen, und in Europa sogar nahe großer Bevölkerungszentren (Oslo, Stockholm, Helsinki) etwas südlich des Polarkreises. Andere europäische Ballungszentren wie z.B. das Ruhrgebiet oder die Niederlande sind dem Polarkreis deutlich näher als den visionären Solar- und Wasserstoffzentren in Marokko oder Algerien. Zudem ist das polare Nordeuropa z.B. mit dem schwedischen Bergbaugebiet Kiruna, den norwegischen Städten wie Tromsö oder den finnischen wie Rovaniemi gut an die Stromnetze angeschlossen, so dass eine Weiterleitung des dort erzeugten elektrischen Stroms kein Problem wäre.
Auch gibt es im Norden große, nicht anderweitig genutzte Flächen, so dass keine Flächenkonkurrenz zu anderen Nutzungsansprüchen bestände. Für entsprechende Energiemodule zur Nutzung der indirekten Energie des Sonnenlichts ließen sich große Freiflächenanlagen errichten. Um Sonnenenergie in den sonnenarmen Regionen des Polarkreises ernten zu können, müsste man allenfalls darauf achten, dass sich die bei Schneefall senkrecht stellen lassen – nördlich des Polarkreises kann es noch Anfang Mai zu Schneefällen und Eis kommen.
Wäre es also nicht eine sehr sinnvolle Lösung, gerade in diesen nördlichen Regionen, wo die Sonne ansonsten kaum scheint, solche Anlagen zur Ernte von Sonnenenergie zu installieren?
Im Prinzip ja, aber …
leider ist die Energie des Sonnenwindes trotz aller beeindruckenden Phänomene insgesamt zu schwach, besonders auch dann, wenn man sie auf Flächen pro Quadratmeter umrechnet. Denn das, was wir z.B. im Norden häufig als grüne oder rote Polarlichter beobachten, entsteht in Höhen zwischen 120 und 250 km. Und einem aufmerksamen Beobachter könnte auch auffallen, dass es zwar in vielen Ländern der Welt Warnungen vor hoher Ultraviolett-Strahlung (UV) gibt, aber nirgendwo Warnungen vor starken Polarlichtern. Doch zu den konkreten Zahlen der Energie des Sonnenwindes im Vergleich zur Energie der Sonnenstrahlung:
Während die Energiestromdichte des Sonnenlichts (= Solarkonstante), also die Energie, welche pro Zeit und Fläche in Erdnähe empfangen wird, bekanntermaßen bei 1.361 W/m2 liegt, kommt die Energiestromdichte des Sonnenwinds in Erdnähe nur auf 8 × 10−4 W/m2*, also nur 0,0008 W/m2. Zwar entstehen durch das Auftreffen des Sonnenwindes auf die Magnetosphäre der Erde elektrische Ströme, die in der Ionosphäre in Höhen über 100 km zu „polaren Elektrojets“ (PEJ) parallel zu den Polarlichtern führen. Aber selbst, wenn diese PEJs hohe Stromstärken bis 1.000.000 Ampere (A), erreichen, haben diese Ausdehnungen von bis zu 3.000 Kubikkilometern, was auf die Fläche umgerechnet nur 0,001 A/m2 ergibt.
Man kann es also drehen und wenden, wie man will: die ebenso überzeugende wie technisch elegante Idee einer Energiegewinnung aus Polarlichtern bzw. dem Sonnenwind wird nicht funktionieren. Eher kann man mit piezoelektrischen Modulen Energie aus herabfallenden Schneeflöckchen erzeugen, was die in die Module investierte Energie niemals über deren Nutzungsdauer wieder einspielen könnte. Und wer von uns würde sich ein PV-Modul aufs Hausdach setzen, das dort weniger als 0,0008 W/m2 Strom erzeugt?Ein Wesenskern der pragmatischen Erneuerbaren Energien ist, sich an den Naturwissenschaften zu orientieren („Hört auf die Wissenschaft“, wie Fridays for Future fordert). Die Physik ist dabei eine zentrale Wissenschaft, die uns unsre Möglichkeiten und Grenzen aufzeigt. Das unterscheidet die Erneuerbaren Energien von den pseudowissenschaftlichen Freie-Energie-Fans einerseits und andererseits von den fanatischen Fossil-Freaks, die an eine unbegrenzte Nutzung von Erdöl, Gas, und Atom glauben. Dummheit stirbt nie – wir hingegen bleiben Realisten.
* Einige Zahlen und Hinweise verdanke ich Herrn Professor Dr. Karl-Heinz Glaßmeier/TU Braunschweig.