30.11.2018
Eine Branche zwischen Vision und Stagnation
„Berlin im Jahr 2048, ein Blick von der Dachterrasse: Die Sonne scheint auf die Photovoltaikmodule und Sonnenkollektoren auf fast allen Dächern. Praktisch jede sonnenbeschienene Fläche liefert Energie, selbst das Geländer der Dachterrasse ist mit einem Solarlack gestrichen. Es herrscht Stille, denn Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren gibt es nicht mehr. Naja, beinahe Stille – in der Luft liegt ständig das Surren der Drohnen, die alle möglichen Arbeiten erledigen, vom Putzen der Solarmodule bis zum Brötchen holen.“
Mit dieser Traumreise startete das 19. Forum Neue Energiewelt am 22. November 2019 in Berlin. Es folgte die harte Landung in der Gegenwart, die vor einigen Jahren auch noch wie ein Science-Fiction-Film angemutet hätte. Waldbrände verwüsten nicht nur Kaliforniens Natur, sondern auch die Villen der Hollywood-Promis. In Deutschland ist der Rhein beinahe trocken und selbst im November kaum Regen in Sicht. Entschlossener Klimaschutz und eine zügige Energiewende wären dringender denn je – doch das Gegenteil passiert. Während der Klimawandel Tag für Tag greifbarer wird, werden die Stimmen immer lauter, die an seiner Existenz zweifeln. Und während Wind- und Solarstrom immer billiger werden, stockt die Energiewende immer mehr.
Solarpraxis-Vorstand Karl-Heinz Remmers nennt wie in jedem Jahr in seinem Vortrag zum Auftakt der Veranstaltung die aktuellen Zahlen: In Spanien produziert eine 175-Megawatt Photovoltaikanlage der BayWaRe mittlerweile Strom zu Kosten von 3,8 Cent pro Kilowattstunde. In Deutschland erhielt im August erstmals eine PV-Anlage einen Zuschlag zu einem Preis (5,42 Cent/kWh), der zu dem Zeitpunkt unter dem Börsenwert des Stromes lag (5,59 Cent/kWh). In keinem Land, so zitiert Remmers die Internationale Energieagentur, sind die Installationskosten pro Kilowatt Solarstrom so niedrig wie in Deutschland – nicht einmal in China und Indien. Eigentlich ausgezeichnete Voraussetzungen, sollte man meinen.
Doch als der Parlamentarische Staatssekretär des Wirtschaftsministeriums, Thomas Bareiß (CDU), das Mikrofon übernimmt, sieht die Welt plötzlich wieder ganz anders aus. Für Bareiß kommt es nicht drauf an, „ob wir 2020 ein CO2-Ziel um zwei Prozent verfehlen“. Viel wichtiger sei es, die chemische Industrie in Deutschland zu halten. Bei der Energiewende geht es Bareiß darum, „Produkte für die Zukunft zu entwickeln“, was ein bisschen klingt wie: „Und wenn wir mit dem Entwickeln fertig sind, fangen wir dann mal mit der Umsetzung an“. Was den konkreten Ausbau der Erneuerbaren angeht, müsse man nun erst mal auf die Netze warten, erklärt Bareiß. Und die Bedingungen für Solarstrom, nun ja, die seien in Deutschland eben nicht so gut wie in Kalifornien. Natürlich will sich Bareiß trotzdem an die gesteckten Ziele halten und bis 2030 einen Anteil von 65 Prozent erneuerbaren Energien im Stromsektor erreichen. Wie das gehen soll, darauf will er sich noch nicht festlegen. Besser sei es, „Schritt für Schritt“ vorzugehen, damit man flexibel bleiben und die neuen Technologien nutzen könne, die noch auf den Markt kommen sollen. Dafür könnte man dann ja „nach hinten etwas schneller werden“. Freilich ist das Prinzip „erst mal feiern und am Ende richtig Gas geben“ aus unzähligen Diplom- und Doktorarbeiten erprobt. Doch irgendwie scheint das Thema nicht so ganz getroffen. Denn beim Klimawandel kann man nicht am Ende ein schnell schön gerechnetes Szenario einreichen, mit einer Vier minus gerade noch bestehen und drei Jahre später denkt eh niemand mehr daran. Es gibt keinen Stichtag, keine sichere Menge CO2, die sich schadlos emittieren lässt. Wenn wir die Ziele später erreichen wollen, heißt das: Die Weltwirtschaft muss eine Vollbremsung machen. Oder wir machen einfach weiter, und lassen die nächsten Generationen die Zeche zahlen. „Nach hinten etwas schneller werden“, das klingt wie eine Katastrophe mit Ansage. entsprechend variierten die Reaktionen aus dem Publikum zwischen Ärger und Fassungslosigkeit.
In der anschließenden Podiumsdiskussion debattierten mit Bareiß auch die energiepolitischen Sprecher der anderen Fraktionen: Martin Neumann (FDP), Julia Verlinden (Grüne) und Bernd Westphal (SPD). Verlinden griff Bareiß für die widersprüchlichen Aussagen an: „Mit dem Energiesammelgesetz sind die angekündigten 65 Prozent Erneuerbare bis 2030 nicht zu erreichen – auch nicht mit den angekündigten Sonderausschreibungen.“ Insbesondere die Kürzung der Einspeisevergütung für Dach-Anlagen und die dadurch bedingten Einschnitte beim Mieterstrom sorgten bei der Grünen-Sprecherin und im Publikum gleichermaßen für Aufregung. Bareiß dagegen beteuerte, die großen Dach-Anlagen seien überfördert gewesen, man habe die Förderung auf Druck aus Brüssel senken müssen. Dieser Erklärung konnten Verlinden und die Solarbranche nur bedingt folgen: Schließlich kritisierten sie weniger die Senkung an sich, als vielmehr die Eile und das Ausmaß. „Gesunken wäre die Vergütung zum neuen Jahr durch das EEG ohnehin“, betonte Verlinden. Und ein Teilnehmer kritisierte über das Publikumsmikrofon: „Die Kalkulationsgrundlage für die Förderung ist falsch“. Damit erntete er auch von SPD-Politiker Westphal ein Nicken und eine Zusage: „Am Ende entscheidet nicht die Regierung über das Gesetz, sondern das Parlament. Und da wird sich noch was ändern“. Das hat sich mit der Einigung der Koalition im Wirtschaftsausschuss am 28. November zwar bewahrheitet, doch zufrieden sein kann die Branche mitnichten. Gekürzt wird die Vergütung für Dach-Anlagen ab 40 kW (derzeit 10,36 Cent/kWh) nicht wie zunächst geplant auf 8,33 Cent, sondern „nur“ auf 8,9 Cent. Außerdem wird die Absenkung über mehrere Monate gestreckt. Die meisten Fachleute gehen dennoch davon aus, dass Mieterstromprojekte damit unrentabel werden. Die abschließende Beratung im Bundestag ist für Freitag (heute) vorgesehen, danach muss noch der Bundesrat zustimmen.
Eva Augsten