29.11.2019
CO2-freier Stahl: Oder der lange Weg zur klimaneutralen Industrie
Die Industrie soll und will bis zum Jahr 2050 CO2- und klimaneutral werden. Das ist noch ein weiter Weg, über den derzeit gerungen wird, Rahmenbedingungen und die Geschwindigkeit der Einführung neuer Technologien werden diskutiert. Eine neue Studie von Wuppertal Institut und Agora Energiewende skizziert die Möglichkeiten und Fragestellungen dieses Themenkomplexes.
Der Titel ist kurz und prägnant: "Klimaneutrale Industrie". Die Studie wurde von den beiden genannten Institutionen unter Beteiligung weiterer Partner erstellt und in dieser Woche veröffentlicht. Opulent der Inhalt: 236 Seiten ist das Dokument stark, neben Einleitung wird die Bedeutung der Grundstoffindustrie (Stahl, Chemie, Zement, ...) dargestellt, die Herausforderungen skizziert und verschiedene Strategien zur Transformation der wichtigsten industriellen Prozesse hin zur Klimaneutralität diskutiert. Konkrete Politikempfehlungen wurden ausgearbeitet und auf fast 50 Seiten am Ende der Studie die konkreten Technologien beschrieben, die in den verschiedenen Industrien absehbar eingesetzt werden können. Anlässlich der Veröffentlichung wurde in Berlin am 26. November eine Konferenz mit dem Titel "Zukunft der energieintensiven Industrie" veranstaltet, in der die Ergebnisse vorgestellt und diskutiert wurden. Genug der Erklärung - jetzt zum Inhalt:
Derzeit: Stagnation bei Emissionen
Die Industrie soll - so will es auch die Bundespolitik nach eigenem Bekunden derzeit - bis 2050 CO2-neutral werden. Doch nachdem die Industrie nach 1990 große Fortschritte gemacht hat und laut Wuppertal-Institut die Hälfte der für 2030 angestrebten CO2-Reduktion bereits umgesetzt hat (Bild1), steigen die Industrieemissionen seit 2015 wieder leicht an - statt weiter zu sinken. Die Studie hat sich im Wesentlichen auf die fünf großen Produktionssparten Stahl, Chemie, Zement, Aluminium und Papier konzentriert; allein die Eisen- und Stahlherstellung, die Chemieindustrie und die Zementherstellung machen innerhalb der Industrieemissionen mehr als 50 % der Gesamtmenge aus.
Und ein weiterer Aspekt: Wie auch Vertreter der Industrie betonen (bei der genannten Veranstaltung war es Martin Theuringer von der Wirtschaftsvereinigung Stahl): Die Einspar- und Effizienzbemühungen in den aktuellen Produktionsprozessen sind "weitgehend optimiert", die noch notwendigen, massiven CO2-Absenkungen können nicht durch weitere Kleinmaßnahmen, sondern nur z.B. durch komplette Umstellung von Prozessen und Produktionsanlagen erreicht werden. Im Klimakonzept 2050 der Bundesregierung ist übrigens eine 95%-CO2-Reduktion als "klimaneutral" festgelegt, die übrigens, als nicht vermeidbar dargestellten Rest-Emissionen sollen per CO2-Ausgleich "kompensiert" werden.
Industrie will Tempo
Patrick Graichen, Direktor der Agora Energiewende, erklärte seinen positiven Eindruck aus den vielen Diskussionen und Gesprächen mit der Industrie im Rahmen der Studienerstellung: "Die Industrie ist bereit zur Transformation", so Graichen. Er betonte aber auch: Für diese Transformation ist sehr viel grüner Strom und grüner Wasserstoff notwendig, das sei - mit Blick auf das aktuelle Klimagesetz und das Abwürgen der Windenergie - bei der Politik in Berlin aber noch nicht angekommen.
Und die Industrie will möglichst rasch klare Rahmenbedingungen, denn Produktionsanlagen der Grundstoffindustrie haben erstaunlich lange Lebensdauern: Bei Hochöfen der Stahlproduktion sind es rund 50 Jahre, bei Zementöfen rund 60 Jahre und die Steamcracker in der chemischen Industrie laufen sogar 50 bis 70 Jahre. Dadurch wird klar: Auch schon bei den Ersatzinvestitionen in den kommenden Jahren will die Industrie die Sicherheit haben, einen richtigen Weg zu gehen und die Anlagen dann auch langfristig über 2050 hinaus betreiben können. Nach Angaben der Branchen stehen bei Stahl und Chemie in den kommenden 10 Jahren rund 50 % der großen Produktionsanlagen zur Neuinvestition an. Gleichzeitig betont die Industrie auch, wie wichtig die preisliche Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt ist, um die Industrie und die Arbeitsplätze in Deutschland halten zu können. Im Gegensatz zum Weltmarkt, wo die Produktionszahlen der Grundstoffe in den vergangenen Jahren gestiegen sind, ist die Grundstoffproduktion in Deutschland über die letzten Jahre nahezu konstant geblieben.
Was nun getan werden muss, damit die Industrie klimaneutral wird, die Studie definiert drei Strategien, die möglich sind:
- die direkte und indirekte Nutzung von erneuerbarem Strom (direkt als Strom oder indirekt in Form von grünem Wasserstoff)
- Kreislaufwirtschaft und Effizienzverbesserung, auch durch Materialersatz und Prozesse, die CO2 in den Kreislauf nehmen und
- CCS, CCU (CO2-Abscheidung und Speicherung bzw. Nutzung) und den direkten Einsatz von Biomasse, um den Kohlenstoffkreislauf zu schließen.
Und die Studie betont: alle diese neuen Technologien stehen schon zur Verfügung oder kurz vor der Markteinführung. Es muss also nicht noch Jahre nach neuen Innovationen dafür geforscht werden. Es geht um die Markteinführung. Eine Markteinführung - sprich Investition in solche Technologien - wird es aber erst dann geben können, wenn die "richtigen" Rahmenbedingungen von der Politik gesetzt sind. Patrick Graichen nannte in Berlin einige Beispiele von Prozessen, die heute schon umgesetzt und dabei sogar negative CO2-Vermeidungskosten erzielen könnten - aber durch "Schieflage" aufgrund von Umlagen oder regulatorischen Rahmenbedingungen nicht wirtschaftlich umsetzbar sind.
Klare Rahmenbedingungen gefordert
In der Studie und bei der Veranstaltung in Berlin wird auch deutlich, dass das Einfordern nach Rahmenbedingungen auch ein Ruf nach Geld ist: Die Industrie betont ihre Bedeutung und die Ihrer Wettbewerbsfähigkeit und geht davon aus, dass CO2-ärmere Produkte zwar kommen sollen, aber aufgrund des internationalen Wettbewerbs nicht teurer werden dürfen als aus der bisherigen Produktion. Die Hauptgeschäftsführerin des Verbandes der Industriellen Energie- und Kraftwirtschaft (VIK) geht noch weiter: Sie sieht als notwendige Grundlage ein Vertrauen in die Zukunft der Klimaschutzbemühungen und möchte eine rasche Diskussion in der breiten Gesellschaft, die ja dann die CO2-ärmeren Produkte auch kaufen soll.
Der stellvertretende Direktor der Agora, Frank Peter, sieht einen großen Vorteil bei der Transformation der Industrie: Die Umstellung soll und kann in den bestehenden Betrieben der Industrie erfolgen. Anders als bei der Transformation z.B. bei der Kohle können Mitarbeiter, Gewerkschaften und viele weitere Akteure beim Prozess der Umstellung im Industriesektor mitgenommen werden.
Eine weitere Forderung der Branchen: Das Augenmerk soll auch auf die Infrastruktur gelegt werden, denn auch dort sind große Investitionen nötig. Weil die Grundstoffproduktion in einigen Branchen sehr regional konzentriert ist, wird das auch eine wichtige Aufgabe sein. So ist die Stahlherstellung in Deutschland weitgehend auf NRW konzentriert, gleiches gilt für die Chemieproduktion - mal abgesehen von der BASF am Rhein und Leuna sowie Wittenberg und Brunsbüttel. Beim Zement ist das kein Problem - diese Branche ist flächig verteilt in der Bundesrepublik angesiedelt. Der Studie nach erfordern die neuen Technologien, die den Strom direkt nutzen wie etwa elektrische Steamcracker, neben dem Angebot des Stroms auch die Verstärkung der lokalen Verteilnetze und möglichweise auch der Übertragungsnetze. Kapazität wird auch für den Transport großer Mengen an Wasserstoff und den möglichen Abtransport von CO2 per Pipeline oder Schiffen zu denkbaren CO2-Speichern (eher Offshore in alten Gasfeldern als Onshore) benötigt. Theuringer nennt eine Größenordnung: Bei Umstellung der gesamten Stahlherstellung in Deutschland auf CO2-freie Produktion und der direkten Nutzung von grünem Strom stünde ein Strom-Mehrverbrauch von 130 TWh Strom an - allein für den Stahl.
Das Beispiel Stahl
Stahl wird derzeit weitgehend im klassischen Hochofen-Prozess gewonnen, dabei wird Eisenerz und Kokskohle aufgeschichtet und auf über 1.200 °C erhitzt. In Zukunft könnte das in wasserstoffbasierten Direktreduktionsanlagen erfolgen. Die Transformation könnte laut Studie dabei auch zeitlich flexibel erfolgen: Die neuen Reduktionsanlagen können als Ersatz alter Hochöfen aufgebaut und zunächst mit Erdgas betrieben werden, dann könnte immer mehr grüner Wasserstoff beigemischt werden, bis eine H2-Vollversorgung zur Verfügung steht. Die Wirtschaftsvereinigung Stahl beziffert die Umstellungskosten der Branche auf 30 Mrd. Euro, der Umwelteffekt wäre gewaltig: Die CO2-Emission aus dem Prozess wird bei Komplettumstellung um 97 % reduziert (Bild 2), die Emissionen gehen von 1,71 t auf 0,05 t CO2 pro Tonne Stahl zurück. Jedoch muss dabei mit Kostensteigerungen zwischen 30 und 60 Prozent gerechnet werden - das wird als eine der großen Herausforderungen adressiert.
Politische Optionen
Für den klima- und industriepolitischen Rahmen sind zwei Möglichkeiten denkbar: Entweder ein sehr hoher, wirksamer CO2-Preis, der aber zumindest europäisch einheitlich sein müsste, was derzeit kaum denkbar ist. Als zweite Möglichkeit ist da noch ein "policy-Mix" aus CO2-Preisen und Zertifikaten, der finanziellen Unterstützung der Industrie für Investitionen, der Sicherung der Absatzmärkte und dem Ausbau der Kreislaufwirtschaft (Bild 3). Nur letzteres wird real gangbar sein und auch von der Industrie als machbaren Weg angesehen. Nur eine Technologie oder eine Maßnahme kann nicht zum Ziel der Klimaneutralität führen. Die einzelnen Bausteine werden in der Studie ausführlich beschrieben.
Neuer Kompetenzzentrum in Cottbus
Um das alles voranzutreiben, wurde Anfang November in Cottbus ein Kompetenzzentrum (KEI) eröffnet, das mehrere Aufgaben wahrnehmen soll: Zum einen als Denkfabrik den Austausch von Wissen und Beratung in diesem Bereich zu organisieren, z.B. auch über Förderprogramme etc.. Zum anderen soll auch die Öffentlichkeit bei der Diskussion der Zukunft der Industrie mitgenommen werden, geht es dabei doch auch um die Verwendung von Steuergeldern für die Transformation. Die verschiedenen Instrumente der Transformation sollen transparent dargestellt werden und auch dem Bürger verständlich gemacht werden. Bundesumweltministerin Svenja Schulze betonte auch, dass die Ansiedlung des KEI in Cottbus auch die erste Umsetzung des Versprechens ist, die Strukturentwicklung in der Lausitz aktiv mitzugestalten.
1 Mrd. Euro stehen bereit
Über ein neues BMU-Förderprogramm "Dekarbonisierung in der Industrie" sollen die Erforschung und Entwicklung innovativer Klimaschutztechnologien zur Vermeidung von Prozessemissionen und deren Umsetzung im industriellen Maßstab gefördert werden. Das Förderprogramm startet im Jahr 2020 und wird vom Bundesumweltministerium mit 1 Mrd. Euro ausgestattet. Auch dieses Förderprogramm soll über die KEI abgewickelt werden. Insbesondere Demonstrationsprojekte, die beispielhaft zeigen, dass die Umstellung technisch funktioniert, sollen gefördert werden.
Man kann gespannt sein, ob die Wünsche nach umfassenden Änderungen der Rahmenbedingungen im politischen Berlin Gehör finden. Und spannend wird auch sein, ob nicht auch die Industrie nun die Forderung nach massivem Ausbau der erneuerbaren Energien unterstützt - ohne viel grünen Strom wird es keine klimaneutrale Industrie geben können.
Jörg Sutter