Technologieoffenheit als Ideologie

Eine Glosse von Götz Warnke

Deutschland ist ein höchst technologieoffenes Land. Das merkt man gleich nach dem Aufstehen im Bad, denn dort hat man die Alternative zwischen traditionell-biomechanischer oder elektrischer Zahnbürste, zwischen Mundspülung und Miswak-Kauholz, zwischen Zahnseide, Ultraschall und Y-Brush. Weiter geht es beim Frühstück mit der Wahl zwischen Tee und Kaffee – jeweils handgebrüht, mit Maschine oder Automaten. Beim Arbeitsweg entscheidet man sich technologieoffen zwischen ÖPNV, Auto, Fahrrad oder Motorroller (natürlich elektrisch!), um dann am Arbeitsplatz mehrseitige Papierdokumente per Heftklammer, Tacker oder Laschenstanze zusammen zu fügen. Wen dann nach Feierabend das „Unkraut“ in den Garten zwingt, der hat die Technologieauswahl zwischen Hacke, Jäter und Stieger, und anschließend zwischen Dusche und Badewanne. Der Unterhaltungs-Feierabend lässt sich alternativ mit Fernseher, Youtube auf dem Laptop, oder Netflix auf dem Tablet gestalten – nicht zu vergessen bei einer guten Flasche Rotwein, deren verschiedene Öffnungstechniken unschwer ein kleines Museum füllen können. Deutschland ist halt ein technologieoffenes Land.

Und dennoch erschallt in letzter Zeit immer häufiger aus den Mitgliederkehlen einer kleinen Partei lautstark die Forderung nach Technologieoffenheit – wie ein verzweifelter Ruf aus dem Tal der Ahnungslosen.

Sicher, man hat in der Vergangenheit immer wieder Technologien als untauglich aussortiert. Das begann schon 1777, als die Französisch Akademie der Wissenschaften erklärte, man werde künftig keine Konzepte zu neu erfundenen Perpetua Mobilia mehr annehmen. Wenig später kamen auch die anderen Wissenschaftsakademien darauf, dass ein neu erfundenes Perpetuum Mobile entweder ein echter Betrugsversuch oder eine falsche Physik ist. Physikalisch ebenfalls im Aus landeten u.a. die Schlagflügelapparate, mittels derer die Menschen aus eigener Muskelkraft wie ein Vogel fliegen wollten – ganz klar Fälle von mangelnder Technologieoffenheit.

Selbstverständlich gab und gibt es auch andere Gründe, um sich über den Ruf nach Technologieoffenheit hinweg zu setzen. So hat man für den Transatlantikflugverkehr schon früh kurz und herzlos den Hubschraubertransport ausgeschlossen, obgleich der technisch möglich wäre. Allerdings müssten, damit die „Kaffeemühlen“ nicht treibstofflos in den Atlantik fallen, ständig große Tankflugzeuge in der Luft sein; ein Lufttransfer London-New York würde so deutlich über 10.000 Euro kosten, und so weit geht selbst die Technologieoffenheit der FDP nicht.

Ähnlich sieht es mit dem Transatlantik-Schiffsverkehr aus: natürlich kann man den „großen Teich“ auch mit dem Ruderboot überqueren, wie u.a. Anfang 2020 vier Hamburger Ruderinnen bewiesen. Und manche Zeitgenossen würden sicher gern ganz technologieoffen Volker Wissing mit fliegender Krawatte und Bettina Stark-Watzinger mit fließendem Kajal durch die Wogen des Atlantiks zur nächsten UN-Tagung nach New York rudern sehen. Motto: „Technologieoffen bleiben – nicht einseitig auf den Luftverkehr setzen!“ Doch da würde selbst Greta Thunberg rufen: „Lasst das! Nehmt lieber das Segelschiff!“ Und diesmal, ja vielleicht nur dieses eine Mal, würde selbst die FDP auf Greta Thunberg hören! Ruderboote für einen Transatlantik-Linienverkehr sind nun einmal zu anstrengend, zu zeitraubend, zu gefährlich.

Wo nun aber möchte die FDP technologieoffen sein? Dazu hat die bereits benannte Frau Stark-Watzinger, ihres Zeichens auch Bundesministerin für Bildung und Forschung, ein Papier verfasst, mit dem sie – forsch, forsch – „ein Technologiefreiheitsprinzip gesetzlich verankern“ möchte. Folgende, unter mangelnder Freiheit und Förderung schwer leidende „Fortschrittstechnologien“ finden sich dort:

1. Die Kernfusionsforschung soll gestärkt werden! Aha, die wird aber bereits seit Jahrzehnten stark gefördert, und macht auch wesentliche Fortschritte – allerdings nur beim „Verbrennen“ größerer Forschungsgelder! Weiß das eigentlich unser so auf Sparsamkeit bedachter Bundesfinanzminister?

2. Neue, „sichere“ Kernspaltungstechnologien wie Small Modular Reactors (SMR) fördern! Woher man jetzt schon weiß, dass die noch zu erforschenden SMR sicher sind, muss wohl das Geheimnis unserer forschen Forschungsministerin bleiben. Die ewig störenden Experten sehen das jedenfalls ein wenig anders. Ein Fortschritt wäre es schon, wenn die wirtschaftsnahe FDP es bei den Finanzinstituten erreichen würde, dass diese endlich mal Atomkraftwerke versichern – wir wollen doch nicht mit ständigen Staatsgarantien für AKWs den Wettbewerb der Marktwirtschaft unterminieren, gelle! Was aber ist in künftigen Hitzesommern, wenn alle Klimaanlagen laufen müssen, aber die SMR als Dampfkraftwerke wegen der leeren Flüsse keinen Strom liefern können? Vielleicht setzt Frau Stark-Watzinger dann – ganz technologieoffen – doch wieder auf das Perpetuum Mobile.

3. Das Fracking-Verbot aufheben! Deutschland hat schon heute ein (Trink-)Wasserproblem, ein Wissen, das auch zum Bildungskanon einer Bundesbildungsministerin gehören müsste. Fracking kann – neben anderen Gefahren – Wasser so sehr verunreinigen, dass es für Mensch, Tier und Landwirtschaft unbrauchbar wird. Und das alles für eine geringe Menge an Erdgas, aus dem wir eh aussteigen müssen? Im Bundesbildungsministerium scheint die Technologieoffenheit auch hinsichtlich der Cannabis-Liberalisierung sehr weit fortgeschritten zu sein!

4. Zukunfts-Option E-Fuels aus grünem Wasserstoff für Autos! Nachdem sie Jahrzehnte lang die Erneuerbaren Energien vorangebracht hat, möchte die FDP nun die Ernte ihres Tuns in Form von energieintensiven E-Fuels einfahren. Das könnte vielleicht sogar klappen, wenn die Vorreiter dieser Hinterherreiter-Technologie, Porsche und Siemens, es endlich schaffen würden, in ihrer südchilenischen E-Fuel-Fabrik das CO₂ klimaneutral aus der Luft zu fischen. Dann könnten 2050 die deutschen Autofahrer-Schlangen vor den Tankstellen – in andachtsvoller Schockstarre des weisen Wissings gedenkend – den E-Fuels-Literpreis auf den Anzeigen langsam auf über 12 Euro klettern sehen, kurz bevor der rare Sprit per Notverordnung für den Schiffs- und Luftverkehr beschlagnahmt wird. 

5. Carbon Capture and Storage (CCS) in Deutschland zulassen! CCS – also mit neuen Bohrungen das klimaschädliche CO₂ in tieferen Erdschichten verpressen? Wahrscheinlich werden auch die neuen Bohrungen von den selben Spezialisten angelegt werden, die schon ihre alten Bohrlöcher nicht wieder dicht bekamen. Aber „Schwamm drüber“, Übung macht den Meister, und irgendwann wird es schon klappen.

6. Die Nutzung "Neuer Züchtungstechnologien" (NZT), insbesondere der Genschere CRISPR/Cas9 ermöglichen! Im Prinzip kein dummer Gedanke, denn wer sollte was gegen mehrjährige Tomatenpflanzen haben – außer den Naturschutz-Nörglern natürlich. Doch in der Praxis dürfte es in erster Linie auf die übliche grenzdebile Gentechnik hinauslaufen, bei der die neue Pflanze nur eines besonders kann: gegen das Pestizid ihres Entwicklers resistent zu sein. Oder geht es hier doch um die Züchtung neuer Muskelmasse für den technologieoffenen Transatlantik-Ruderboot-Verkehr?

7. Deutschland soll Innovationsstandort für Künstliche Intelligenz (KI) werden! Eine wahrhaft kluge Forderung, denn in einem Land, in dem es offensichtlich Teilen der politischen Klasse an natürlicher Intelligenz gebricht, kann vielleicht Künstliche Intelligenz das Schlimmste noch verhindern.

Von den letzten beiden Punkten einmal abgesehen, würden eigentlich in diese Technologieoffenheits-Liste auch so urliberale Techniken wie die Gas-Brennwerttherme, die „moderne Ölheizung“ und der mechanische Taschenrechner (für Blackouts) passen. Schließlich will ja der entsprechende energiepolitische Lautsprecher die besorgten Bürger vor den bösen Wärmepumpen retten – wenn er sich nicht gerade selbst politisch opportun um die Wärmepumpenproduktion in Deutschland sorgt. Zumal sich offensichtlich auch andere Liberale zum Wärmepumpenspezialisten fortbilden wollen – „It’s a Long Way to Tipperary“!

Eines sollte man aber bei aller Begeisterung für Technologieoffenheit bedenken:

Wer völlig technologieoffen ist, ist nicht ganz dicht!