28.01.2022
Sogenannte grüne Taxonomie: Ohne Einwände tritt der delegierte Rechtsakt in Kraft
Ein Bericht von Tatiana Abarzúa
Vergangene Woche endete die Konsultationsfrist, um einen neuen Verordnungsentwurf der Europäischen Kommission für die „grüne Taxonomie“ zu prüfen. Dabei geht es um einen ergänzenden delegierten Rechtsakt (Complementary Delegated Act, kurz: CDA), der eine Einstufung von Investitionen in Atom- und Gaskraftwerken als „nachhaltig“ zum Ziel hat. Geplantes Inkrafttreten: ab dem 1. Januar 2023. Ursula von der Leyen, Präsidentin der EU-Kommission, hatte der Sachverständigengruppe der Mitgliedstaaten für nachhaltiges Finanzwesen und der Plattform für ein nachhaltiges Finanzwesen ursprünglich eine Frist von zwölf Tagen für die Expertenkonsultation des 60-seitigen Dokuments gegeben.
Der Hintergrund zum Verordnungskrimi oder: was bisher geschah
Bereits im Mai 2018 hatte die Europäische Kommission die Entwicklung einer Taxonomie vorgeschlagen: ein einheitliches EU-Klassifizierungssystem mit Kriterien, um festzustellen, ob eine Wirtschaftstätigkeit umweltverträglich ist (die DGS-News berichteten). Die EU-Taxonomie-Verordnung wurde am 22. Juni 2020 im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht und trat am 12. Juli 2020 in Kraft. Allerdings leitete die Kommission im gleichen Jahr einen Prozess ein, um zu bewerten, ob Atomenergie innerhalb der EU-Taxonomie als umweltverträgliche Aktivität klassifiziert werden solle. Letztendlich wurde eine Entscheidung für zwei Bereiche verschoben: neben der Bewertung zur Atomenergie auch für die Einordnung von Erdgastätigkeiten (die DGS-News berichteten). Dabei äußerten Organisation wie der Club of Rome schon zu dem Zeitpunkt, dass die Aufnahme von Atomenergie in die EU-Taxonomie der wissenschaftlichen Analyse der unabhängigen technischen Expertengruppe widerspreche, die eingerichtet wurde, um die Taxonomievorschläge für die Europäische Kommission zu erarbeiten.
EP und Rat erhalten bald CDA zur Prüfung
„Durch die EU-Taxonomie sollen private Investitionen mobilisiert und in Tätigkeiten gelenkt werden, die notwendig sind, um in den nächsten 30 Jahren Klimaneutralität zu erreichen“, wie die EU-Kommission die Zielsetzung des Regelwerks erläutert. Dem neuen Entwurf nach soll Atomstrom „unter bestimmten Bedingungen“ als „grün“ bezeichnet werden (die DGS-News berichteten). Übereinstimmenden Meldungen mehrerer Medien zufolge, sendete von der Leyen den Taxonomievorschlag am 31. Dezember kurz vor Mitternacht. Somit ganz kurz vor Beginn der sechsmonatigen französischen Präsidentschaft im Rat der Europäischen Union.
Nach eigenen Angaben wird die Kommission die Stellungnahmen analysieren, den ergänzenden delegierten Rechtsakt im Januar annehmen und im Anschluss dem Europäischen Parlament und dem Rat der Europäischen Union (EU-Rat) zur Prüfung vorlegen. Beide Organe haben dafür vier Monate Zeit und können eine Fristverlängerung um zwei Monate beantragen. Sie können innerhalb dieser Zeit Einwände gegen den CDA erheben – und wenn sie keine Einwände erheben, tritt der delegierte Rechtsakt in Kraft.
Die Stellungnahme Deutschlands
Am 21. Januar reichte die Bundesregierung die gemeinsame Stellungnahme zum ergänzenden delegierten Rechtsakt bei der EU-Kommission ein. Angesichts der behandelten Fragen kritisiert sie, dass weder ein ordentliches Gesetzgebungsverfahren noch eine öffentliche Konsultation erfolgt seien, um angemessene Einflussmöglichkeiten der Mitgliedstaaten und des Europäischen Parlaments zu gewährleisten. In der Stellungnahme erklärt die Bundesregierung, dass sie die Bemühungen der EU für eine nachhaltige Finanzwirtschaft unterstützt. Die Taxonomie innerhalb des „Aktionsplans zur Finanzierung nachhaltigen Wachstums“ von 2018 sei laut Bundesregierung „ein wichtiges Transparenzinstrument“, um Investitionen in nachhaltige Wirtschaftstätigkeiten zu ermöglichen.
Eine Aufnahme von Atomenergie in den delegierten Rechtsakt lehnt sie nachdrücklich ab. Sie weist auch auf rechtliche Bedenken gegen den delegierten Rechtsakt hin, „da es zweifelhaft ist, ob die Aufnahme von Atomenergie mit den Vorgaben der Taxonomieverordnung vereinbar ist“. Sie bezeichnet diese klar als „Hochrisikotechnologie mit dem unvermeidbaren Restrisiko schwerer Unfälle mit erheblichen, auch grenzüberschreitenden radiologischen Folgen“. Dafür benennt sie mehrere Argumente: „eine geringe CO2-Intensität genügt nicht zur Einordnung als nachhaltig“, sicherheitstechnische Nachrüstungen für den von der Kommission geplanten Weiterbetrieb existierender Atomkraftwerke und deren Laufzeitverlängerungen seien „nur in einem begrenzten Umfang sinnvoll“, der Entwurf setze sich nicht mit – „im Sinne des Restrisikos“ – Stör- und Unfällen bei der Zwischenlagerung radioaktiver Abfälle auseinander, „Atomenergie ist teuer und die Endlagerfrage ist nicht gelöst“. Diese Situation könne auch die Vorgabe des Entwurfs, „dass nationale Pläne für den Betrieb eines solchen Endlagers bis 2050 vorliegen müssen, nicht heilen“.
Zudem fehlten von der Kommission überprüfbare Zwischenschritte für eine „Operationalisierung des Endlagerplans“, und die Forderung, einen „radioactive waste management fund“ und einen „nuclear decommissioning fund“ einzurichten, sei unspezifisch „um am Ende der Laufzeit des Atomkraftwerkes dessen Rückbau und Entsorgung sicherstellen zu können“.
Zudem benötigen Erneuerbare Energien ergänzend flexible Anlagen, die schnell hoch bzw. heruntergefahren werden können, was die Atomkraftwerke nicht leisten können, so die Stellungnahme. Außerdem vergrößert sich das Problem des Atommülls „je länger Atomkraftwerke laufen“. Auch die weitere Kritik an einen Ausbau der Atomenergie ist sehr umfassend. So sei es „für die Bundesregierung nicht ersichtlich, wie ein Atomkraftwerk, das nach 2035 errichtet wird, angesichts der üblichen Bau- und Genehmigungszeiten zur Erreichung der 2050-EU-Klimaziele beitragen kann“. Außerdem berücksichtige der Vorschlag der Kommission, vorkommerzielle Entwicklungen („advanced technologies“) in die Taxonomie einzuschließen, nicht die verbleibenden Risiken solcher Reaktorkonzepte. Das gelte auch für „Small Modular Reactors“ (die DGS-News berichteten) welche nicht ausgereift seien und nicht als nachhaltig eingestuft werden könnten. In der Stellungnahme wird auch argumentiert, dass “bei einer realistischen Berücksichtigung der Risikokosten (ohne Staatshaftung)“ kein privates Geld in Atomkraft investiert werde.
Einen Tag später bekräftigten die Minister Robert Habeck und Steffi Lemke die Kritik an den geplanten Atomregeln in der Taxonomie. Eines zweiten ergänzenden delegierten Rechtsaktes hätte es nicht bedurft, so beide Regierungsvertretende, da der erste delegierte Rechtsakt „richtige, angemessene und strenge Maßstäbe“ anlege, um nachhaltige Tätigkeiten zu klassifizieren.
In der Eingangsbemerkung der Stellungnahme Deutschlands wird der beschlossene Atomausstieg – bis Ende 2022 – betont. Zudem wird darauf hingewiesen, dass sich die Bundesregierung auf europäischer und internationaler Ebene dafür einsetzt, „dass die Atomenergie für die von ihr verursachten Kosten selbst aufkommt“.
In Ihrer Stellungnahme hat die Bundesregierung Gaskraftwerke bei der Klassifizierung als „eine Brücke“ bezeichnet, „um den schnellen Kohleausstieg zu ermöglichen und dadurch kurzfristig CO2-Einsparungen zu erreichen“. Entscheidend für eine Einstufung als Übergangstechnologie sei, dass diese Kraftwerke „die schnelle Umstellung auf erneuerbare Energien und die Reduktion der Emissionen im Energiesektor insgesamt unterstützen, die erneuerbaren Energien ergänzen und nicht verdrängen und ihren Betrieb rechtzeitig auf Wasserstoff umstellen“. Sie argumentiert für „einen Ersatz alter Gaskraftwerke durch moderne, Wasserstoff-ready Anlagen“.
Weitere Positionen
Kritik zum ergänzenden delegierten Rechtsakt haben auch Spanien, die Niederlande, Österreich und Luxemburg geäußert. Nach Meinung etwa der luxemburgische Umweltministerin Carole Dieschbourg wäre die Einbeziehung der Kernenergie ein falsches Signal. Diese „ist nicht wirtschaftlich, ist keine Übergangsenergie und braucht zu viel Zeit“, so Dieschbourg. Für Österreich sei die Einbeziehung der Atomenergie nicht akzeptabel, „es würde die Glaubwürdigkeit der Taxonomie beeinträchtigen“, sagt die österreichische Umweltministerin Leonore Gewessler. Es sei irreführend, „Energien als ,nachhaltig‘ zu bezeichnen, die es nicht sind, die nicht sicher sind, die die Probleme der Vergangenheit nicht gelöst haben, die zu teuer und zu langsam sind, um dem Klimawandel entgegenzuwirken“, ergänzt Gewessler.
Auch das eigens für die Taxonomie geschaffene Beratergremium der Kommission, die Plattform für ein nachhaltiges Finanzwesen, kritisierte den Taxonomieentwurf. Ihrer Meinung nach können Erdgas und Atomenergie unter den gegenwärtigen Umständen nicht als nachhaltig bezeichnet werden.
Kann der Entwurf abgelehnt werden?
Das Europäische Parlament kann den Verordnungsvorschlag mit einer Mehrheit im Plenum ablehnen, also mindestens 353 Abgeordnete. Der EU-Rat hat das Recht, den ergänzenden delegierten Rechtsakt mit verstärkter qualifizierter Mehrheit abzulehnen. Das bedeutet konkret mindestens 72 % der Mitgliedstaaten – mindestens 20 Mitgliedstaaten – die zudem mindestens 65 % der Bevölkerung der EU vertreten.