27.09.2019
Bodenlose Politik
Ist das nun eine Art Realitätsverlust* oder lediglich die Arroganz der Macht, wenn sich Politik bei Wissenschaftlern und Schülern ausdrücklich für deren Druck bedankt und als Ergebnis dieses „Weckrufs“ einen Klimaschutz-Maßnahmenkatalog präsentiert, der nur schwer in Wort zu fassen ist. Noch recht freundlich formuliert handelt es sich beim Klimaschutzpaket um Etikettenschwindel, der ohne Schamgefühl als „großer Wurf“ bezeichnet wird. Jetzt könnte man wie üblich konstatieren, dass es ja immerhin ein Anfang sei und Politik schließlich aus Kompromissen besteht. Leider trifft das hier in keiner Weise zu, das Signal der Regierung ist derart verheerend, dass man sich durchaus Sorgen machen muss.
Neben den existentiellen Sorgen wegen des gefährlichen Klimawandels sind durch eine solche Missachtung breiter Schichten der Intelligenz auch gesellschaftliche Verwerfungen zu befürchten. Eine Regierung, die sich nicht um die Belange ihrer Wähler schert, sägt am demokratischen Ast auf dem sie sitzt. Da verkommt alles Wehklagen über Politikverdrossenheit und abgehängte Menschen zur Farce. Ein solches Verhalten wirkt von außen partiell autokratisch und höchst undemokratisch. Wer sich so verhält, verliert seine Legitimation und muss sich nicht wundern, wenn einfältige Problemlöser Oberwasser gewinnen.
Einen besonders besorgniserregenden Eindruck hinterließ Deutschland erst die Tage auf der UN-Konferenz. Schon im Vorfeld hatte man keine Skrupel zu schreiben, dass die Beschlüsse des Klimakabinetts Verbindlichkeit in die deutsche Klimapolitik bringen und einen Neustart markieren. Man brachte gar seine Hoffnung zum Ausdruck, dass Deutschland damit auch auf internationaler Ebene Schwung für den Klimaschutz erzeugen könne. Nachdem sich Bundeskanzlerin Merkel telegen mit der schwedischen Klimaaktivistin Greta Thunberg (Ihren Wortbeitrag finden Sie in einer freien Übersetzung am Ende dieses Textes) ablichten ließ mahnte sie die Industrienationen mit großer Dringlichkeit, gegen die globale Herausforderung der Erderwärmung aktiv zu werden und bekräftigte zudem, dass die Industriestaaten die Verursacher dieser Erderwärmung und die Entwicklungsländer die Hauptleidtragenden seien. Deshalb hätte man die Pflicht, Innovation, Technologie und Geld einzusetzen, um die Wege zu ebnen, um die Erderwärmung zu stoppen. Angeblich stünde Deutschland auch vor einem tiefgreifenden Wandel.
Das passt so gar nicht zu den Beschlüssen, die kurz zuvor noch als das „was in der Politik möglich sei“, bezeichnet wurden. Darauf kann man nur antworten, wenn das alles ist, was für diese Repräsentanten möglich ist, sollten sie schleunigst abtreten. Verlogene Worthülsenpolitik mit Luftbuchungen und Zielen, die man gar nicht einzuhalten gedenkt, ist nicht mehr länger zu ertragen. Ein exemplarischer Satz von Angela Merkel zum Ende: „Es gibt diejenigen, die aktiv sind und demonstrieren und uns Druck machen. Aber es gibt auch die Zweifler. Aufgabe jeder Regierung sei es, „alle Menschen mitzunehmen“.
Dass beim Mitnehmen der Menschen schon die meisten durch die groben Maschen unehrlicher Politik gefallen sind, hat man in Berlin offensichtlich noch nicht mitbekommen.
Matthias Hüttmann
*Medizinisch und psychologisch beschreibt der Zustand des Realitätsverlust einen geistigen Zustand, in dem Betroffene ihre Situation nicht mehr so erfassen können, wie es den Tatsachen entspricht beziehungsweise wie die Mehrzahl ihrer Mitmenschen dies tun würde. Im Extremfall kann ein Realitätsverlust dazu führen, dass Betroffene sich selbst oder andere gefährden.
Die Rede von Greta Thunberg auf dem UN-Klimagipfel in New York:
„Das ist alles falsch. Ich sollte nicht hier stehen. Ich sollte wieder in der Schule auf der anderen Seite des Ozeans sein. Und doch kommt ihr alle zu mir, um Hoffnung zu schöpfen? Wie könnt ihr es wagen! Ihr habt meine Träume und meine Kindheit mit euren leeren Worten geraubt. Und doch gehöre ich zu den Glücklichen.
Menschen leiden. Menschen sterben. Ganze Ökosysteme kollabieren. Wir stehen am Anfang einer Massenausrottung. Und alles, worüber ihr sprechen könnt, ist Geld und Märchen vom ewigen Wirtschaftswachstum. Wie könnt ihr es wagen!
Seit mehr als 30 Jahren ist die Wissenschaft eindeutig. Wie können Sie es wagen, weiterhin wegzuschauen und hierher zu kommen und zu sagen, dass Sie genug tun, wenn die Politik und die notwendigen Lösungen noch nirgendwo in Sicht sind?
Sie sagen, dass Sie uns "hören" und dass Sie die Dringlichkeit verstehen. Aber egal wie traurig und wütend ich bin, ich will das nicht glauben. Denn wenn ihr die Situation vollständig verstanden hättet und immer noch nicht handelt, dann wärt ihr Bösewichte. Und ich weigere mich, das zu glauben.
Die gängige Auffassung, unsere Emissionen in 10 Jahren zu halbieren, gibt uns nur eine 50%ige Chance, unter 1,5°C zu bleiben, und das Risiko, irreversible Kettenreaktionen außerhalb der menschlichen Kontrolle auszulösen.
Vielleicht sind 50% für Euch akzeptabel. Aber diese Zahlen beinhalten nicht die Kipppunkte, die meisten Rückkopplungsschleifen, die zusätzliche Erwärmung, die durch die giftige Luftverschmutzung oder die Aspekte der Gerechtigkeit und Chancengleichheit. Sie verlassen sich auch darauf, dass meine und die Generation meiner Kinder Hunderte von Milliarden Tonnen Eures CO2 mit Technologien aus der Luft saugen, die es praktisch nicht gibt. Ein 50%iges Risiko ist also für uns einfach nicht akzeptabel - wir, die wir mit den Folgen leben müssen.
Um eine 67%ige Chance zu haben, unter einem globalen Temperaturanstieg von 1,5°C zu bleiben - die besten Aussichten, die der Zwischenstaatliche Ausschuss für Klimaänderungen bietet -, hatte die Welt 420 Gigatonnen Kohlendioxid übrig, die sie am 1. Januar 2018 wieder emittieren konnte. Heute sind es bereits weniger als 350 Gigatonnen. Wie können Sie es wagen, so zu tun, als ob dies mit Business-as-usual- und einigen technischen Lösungen gelöst werden könnte? Mit den heutigen Emissionswerten wird das verbleibende CO2-Budget in weniger als achteinhalb Jahren vollständig aufgebraucht sein.
Es wird heute keine Lösungen oder Pläne geben, die mit diesen Zahlen übereinstimmen. Weil diese Zahlen zu unangenehm sind. Und ihr seid immer noch nicht erwachsen genug, um es so zu sagen, wie es ist.
Ihr enttäuscht uns. Aber die jungen Leute fangen an, Euren Verrat zu verstehen. Die Augen aller zukünftigen Generationen sind auf euch gerichtet. Und wenn Ihr Euch entscheidet, uns zu enttäuschen, sage ich, dass wir Euch nie verzeihen werden. Wir werden Euch das nicht durchgehen lassen. Genau hier, genau hier ist es, wo wir die Grenze ziehen. Die Welt wacht auf. Und die Veränderung kommt, ob es euch gefällt oder nicht.“