27.05.2022
Ist „Strom-Außenpolitik“ von Deutschland und EU sinnvoll?
Eine Studien-Analyse von Heinz Wraneschitz
„Geopolitik des Stroms – Netz, Raum und Macht“: Wenn die „SWP Stiftung Wissenschaft und Politik“ eine Studie mit diesem Titel veröffentlicht, kann man sicher sein: In der breiten Öffentlichkeit wird sie kaum wahrgenommen. Doch die Politiker:innen von Rechts bis Links werden sich sofort drauf stürzen – aber auch kaum darüber öffentlich sprechen. Ich jedenfalls habe erst vor wenigen Wochen von der Existenz dieses 62-Seiten-Papiers erfahren.
Und mit dem ersten Halbsatz der einführenden Zusammenfassung kann ich mich auch 100-prozentig identifizieren: „Die geopolitische Bedeutung von Strom wird unterschätzt … “ Denn für mich als Elektroenergie-Ingenieur ist Strom (fast) alles – ohne Strom geht (nahezu) nichts. Nirgendwo auf der Welt.
Doch der Hammer kommt gleich in der zweiten Hälfte und dem Folgesatz: „ …obwohl Stromnetze Räume konstituieren. Sie etablieren neue Einflusskanäle und Machtsphären in politischen Gemeinwesen und über sie hinaus.“ Und schon wird klar, worum es den Studienmachenden Kirsten Westphal, Maria Pastukhova und Jacopo Maria Pepe geht: Nicht um Strom, sondern um (Übertragungs-)Netze dafür. Möglichst mächtige, die sich möglichst monopolistisch über die ganze Welt ausdehnen. Kontrolliert von wenigen Konzernen – so wie hier in diesem unserem Lande. Wo die Kontrolle der Übertragungsnetze (ÜN) zwar offiziell bei der Bundesnetzagentur liegt. Doch diese Einrichtung des Bundeswirtschaftsministeriums nickt nach meiner Einschätzung die Vorschläge zum ÜN-Ausbau nur ab, und die ÜN-Betreiber (ÜNB) wollen immer mehr davon: je mehr Leitungen, umso mehr (Garantie-)Rendite.
Richtige Feststellungen – falsche Konsequenzen
Ja, es ist grundsätzlich richtig, was (auf Seite 6) geschrieben steht: „Mit Stromverbindungen können asymmetrische Abhängigkeiten erzeugt, marktpolitische, rechtlich-regulatorische oder technisch-wirtschaftliche Dominanz etabliert und merkantilistische Ziele verfolgt werden.“ Doch die von SWP daraus abgeleitete Konsequenz ist die völlig falsche: Nicht der Versuch, selber Abhängigkeiten zu erzeugen, darf im Vordergrund stehen. Es müsste im Gegenteil das Ziel sein, dass jedes Land sich möglichst aus eigenen, natürlichen Stromquellen versorgen kann und nur den fehlenden oder überschüssigen Anteil mit den Nachbarn ausgleicht. Das in etwa ist das Prinzip des „Zellularen Ansatz“.
Den an die Politik und die Energiewirtschaft heranzutragen hat der Elektrikerverband VDE schon 2015 versucht. Doch der VDE ist – von wenigen Ausnahmen abgesehen – damit gescheitert. Weil logisch argumentierende Techniker nicht so viel politische Einflussmacht haben wie von der Politik selbst alimentierte Stiftungen?
Die SWP-Studie hat im Übrigen nicht nur Deutschland, Europa, Eurasien, sondern die ganze Welt im Visier. Interkonnektoren, die Integration von Russland oder China, der Stromnetzaufbau in Asien und die Möglichkeiten der Vernetzung mit den Leitungen (West-)Europas, „Indien als Ausgangszentrum der subregionalen Stromnetzkonnektivität“ (S. 41): Alles haben die drei von der SWP-Netzausbaustelle teils bis ins Kleinste aufgeschrieben und – sie nennen es bestimmt selbst so – analysiert. Aber mancherorts schlagen politische Entscheidungsträger:innen ihnen – wenn auch ungewollt - ein Schnippchen und unterstützen so indirekt den Weg in Autarkie und Umstieg auf die Erneuerbaren. Die Feststellung „Politische Faktoren sind das größte Hindernis für die Förderung der Zusammenarbeit bei der Stromnetz-konnektivität Nordostasien“ ist ein solches Beispiel (S. 47).
Importabhängigkeit soll wohl erhalten bleiben
Aber schon mitten in der Eingangszusammenfassung steht: „Deutschland und die EU müssen eine Stromaußenpolitik entwickeln, um das europäische Stromnetz zu optimieren und modernisieren, zu verstärken und zu erweitern. Vor allem aber sind Deutschland und die EU gefordert, Interkonnektivität über das eigene Verbundnetz hinaus mitzugestalten.“ Das heißt ja wohl nichts anderes als: Der Verbund nach Osten und Westen soll es möglich machen, mit beispielsweise tschechischem oder französischem Atomstrom die ohnehin schon geschwächten Länderausbaupfade für Wind- oder Sonnenstrom nicht nur bei uns, sondern in ganz Europa noch mehr zu verengen. Passend dazu ist der Satz (auf S. 9) zu lesen, der genauso von irgendeinem ÜNB stammen könnte (oder stammt er vielleicht sogar dorther?): „Je enger vermascht das Netz ist, desto besser ist – vereinfachend gesagt – die Versorgungssituation und Stabilität im Netz.“
Doch alle SWP-Vereinfachungen nützen nichts, wenn es – renitente? - Staaten gibt, die lieber ihr eigenes Stromding vorantreiben. „Trotz aller Vernetzungsdynamik springt ins Auge, wie heterogen der Kontinentalraum zwischen Europa und Asien ist. Dabei offenbart sich vor allem, dass die Entwicklungen zwischen den drei analysierten Räumen nicht gleichzeitig verlaufen, was Interkonnektoren, Stromverbünde und damit den Vernetzungs- und Integrationsgrad anbelangt.“ Das ist in der dritten von fünf Schlussfolgerungen zu lesen (S. 50). Wie aber daraus die noch umfassendere Empfehlung wird: „Hier ist der kommunikative und multilaterale Ansatz, der China integriert, einem exklusiven Vorgehen vorzuziehen“ (S. 53)? Das bleibt das exklusive Geheimnis von Kirsten Westphal, Maria Pastukhova und Jacopo Maria Pepe.
Außerdem haben die SWP-Stromnetzstrateg:innen mit einem sicher nicht gerechnet: Mit Vladimir Putin. Als sie nämlich schrieben: „In der östlichen EU-Nachbarschaft dominiert die Geopolitik seit dem Ende des Ost-West-Konflikts die Konfiguration der Stromnetze“, konnten sie noch nicht wissen, dass der russische Alleinherrscher ein halbes Jahr später einen Angriffskrieg gegen die Ukraine vom Zaun brechen würde. Denn dass „eine Integrationskonkurrenz zwischen der EU und Russland unübersehbar“ ist, das kann man seit dem 22. Februar 2022 beim besten Willen nicht mehr behaupten. Selbst die Türkei oder China sind nicht mehr zu 100 Prozent auf der Seite des Kreml-Dominators.
Doch ob sich irgendein:e verantwortlicher Bundespolitiker:in von solch – aus Sicht der SWP wahrscheinlich nebensächlichen - Fehleinschätzungen der hochgelobten, aber von Bundestag und Regierung per Stiftungsrat dominierten und mit 16 Mio. jährlich finanzierten „Stiftung Bürgerlichen Rechts“ beeinflussen lässt? Sich abhalten lässt, der augenscheinlichen Studiengrundforderung „Netze, Netze, noch mehr Netze“ zu folgen? Daran habe ich große Zweifel. Oder haben Sie in den letzten Jahren von Regierungsseite – wie die auch immer zusammengesetzt war oder ist - jemals von einem ernsthaften Plan gesehen, gelesen, gehört, der hin zur Dezentralität der Stromversorgung auf Basis Erneuerbarer Energien hierzulande führen würde?