25.10.2024
Schnell und billig mehr Strom durch die Netze leiten
Eine Studieneinordnung von Heinz Wraneschitz
Die Leistungsfähigkeit vor allem der bestehenden Stromnetze - ob Verteilnetze in den Regionen, also der 20- oder 110-Kilovolt-Leitungen (kV), oder der 220- und 380-kV-Übertragungsnetze – bremst das Einspeisen von Regenerativstrom aus Photovoltaik- (PV), Biostrom- oder Windkraft-Anlagen (WKA) immer mehr aus. Über 8.000.000.000 Kilowattstunden (kWh) wurden laut Informationen des Bundestags im Jahre 2022 durch die Netzbetreiber abgeregelt, mussten den Betreibern aber trotzdem nach den EEG-Bestimmungen vergütet werden. Und diese nicht verfügbare Strommenge steigt Jahr für Jahr weiter. Denn bislang fehlen Stromspeicher wie Batterien oder Kavernen, die den aus diesen Spitzen der Ökoenergieerzeugung gewonnenen Wasserstoff aufnehmen könnten. Auf der anderen Seite aber ist die Erzeugung aus Kohlekraftwerken nur schwerfällig ab- und aufregelbar. Und so greifen die Übertragungsnetzbetreiber meist dort ein, wo es am einfachsten geht: bei großen PV- und WKA. Das ist einer der Gründe, warum rückwärtsgerichtete Atomis und sonstige Schwurbler:innen gerne auf stillstehende Windräder zeigen können, „weil die ja ach so uneffektiv arbeiten“.
Bislang haben Bundesnetzagentur und Übertragungsnetzbetreiber (ÜNB) in trauter Zweisamkeit vor allem den massiven Ausbau der Höchstspannungsnetze gefordert, und der Bundestag ist dieser Forderung fast kritiklos gefolgt. „Ein zügiger Ausbau der Elektrizitätsversorgungsnetze notwendig“, heißt es dazu in der Bundestagsmeldung 809 aus dem Jahre 2023 verkürzend.
Denn die Verteilnetze finden sich in solchen öffentlichen Diskussionen kaum wieder. Genausowenig wurde im vergangenen Jahrzehnt eine Reihe von Studien beachtet, welche die „Elektrotechnische Gesellschaft“ ETG im Elektrotechnikerverband VDE unter dem Begriff „Zellulare Energiesysteme“ erarbeitet und veröffentlicht hat. Würden benachbarte Erzeugungs- und Verbrauchszellen effektiv miteinander verkoppelt, könnte der Austausch untereinander den Ausbau der Übertragungsleitungen massiv reduzieren, so der Tenor der VDE-ETG-Fachleute im Fachausschuss V2.4.
Nun aber findet eine neue Veröffentlichung der VDE-ETG heftigen Widerhall in Deutschlands Medien.
Auch wenn konservativ orientierte Onlinemedien weiterhin lieber dem die ÜNB vertretenden Bundesverbands der Elektrizitäts- und Wasserwirtschaft BDEW folgen: Fast alle anderen Zeitungen oder Online-Plattformen berichten positiv irritiert über die Studie „Höherauslastung von Betriebsmitteln im Netz der Energiewende“, die am 17. Oktober veröffentlicht wurde. Der Grund für die positive Resonanz ist recht leicht zu finden: Mit sehr geringen Kosten und quasi von heute auf morgen lassen sich wesentlich mehr Ökostrom-kWh durch die Leitungen führen; die Abregelung sinkt, mehr Ökostrom wird tatsächlich verbraucht, die fossile Stromerzeugung geht zurück, die so genannten „Redispatch“-Aufwendungen bei den Netzbetreibern nehmen ab.
„Die geplante, statische und dynamische Höherauslastung von Betriebsmitteln über den Bemessungsstrom hinaus bietet sowohl Netzbetreibern als auch Errichtern neue Potentiale. Durch eine gezielte Auslastung können Engpässe im Netz teilweise kompensiert werden. Darüber hinaus wird der Netzanschluss deutlich größerer Leistungen von erneuerbaren Erzeugern möglich, trotz begrenzter Netzinfrastruktur. Dies entspricht den politischen Forderungen, wie sie im Paragrafen 49b des Energiewirtschaftsgesetzes als „temporäre Höherauslastung des Höchstspannungsnetzes“ beschrieben werden.“ Das ist einer der Leitsätze der VDE-ETG-Studie, die aber auch darauf hinweist: Selbst neu errichtete Leitungen „zeigen mit gezielter Höherauslastung einen reduzierten ökologischen Fußabdruck, und dies bei erheblich eingesparten Kosten“. Natürlich müsse „die Höherauslastung ausschließlich kontrolliert erfolgen“, mit individuell angepasstem Monitoring und Diagnose für jedes Betriebsmittel, und das möglichst online.
Doch die Autoren belassen es nicht bei einer theoretischen Abhandlung: Sie haben Fallbeispiele eingefügt, welche praktisch zeigen, wie diese Höherauslastung bei Transformatoren, Freileitungen, Kabel und Durchführungen umgesetzt werden kann. Dabei gehen sie auch auf die Anlagen-Betriebs- und Systemführung ein.
Was heißt das konkret?
Bei Trafos beispielsweise müssen die Temperaturen laufend gemessen werden. Leitungsseile können mehr Strom bei kälteren Außentemperaturen führen – witterungsbedingter Freileitungsbetrieb ist hier das Zauberwort. Neue Beseilung sollte nur mit Hochtemperaturleitern erfolgen. Erdkabel sind dauerhaft höher belastbar, wenn man die genaue Wärmeleitfähigkeit des Erdbodens kennt. Doch das sind nur ein paar Beispiele. Denn: „Jedes der in diesem Bericht betrachtete Betriebsmittel hat zum Teil erhebliche Reserven in der Strombelastbarkeit.“ Doch unterscheiden sich die Bedingungen für jedes Betriebsmittel anders zu definieren. Deshalb sei „ein genaues Verständnis der physikalischen Gegebenheiten, von der Erwärmung, über die auftretende Alterung, den Ausfallwahrscheinlichkeiten bis zu deren möglichen Folgen“ notwendig.
Die VDE-ETG-Forschenden machen aber auch auf Risiken aufmerksam. Es sei „klar zwischen einer zulässigen Höherauslastung innerhalb der Materialgrenzen der Betriebsmittel und einer unzulässigen Überlastung mit inakzeptablen Risiken für Mensch, Umwelt und die Technik zu unterscheiden. In diesem Bericht geht es immer um die Höherauslastung der Betriebsmittel unter Ausnutzung der Materialreserven, günstiger Umgebungsbedingungen und verbesserter Betriebsarten.“
Nach Meinung der Elektrotechnik-Fachleute kann allein die Strombelastbarkeit von Freileitungen um fast das Eineinhalbfache (genau: +140 Prozent) nach oben gelegt werden, ohne dass es Sicherheitsprobleme gibt. Deshalb sollte diese Untersuchung schnellstens in der Praxis genutzt und umgesetzt werden. Denn je weniger Ökostrom abgeregelt werden muss, umso schneller kann die Energiewende erreicht und die klimaschädliche Kohlestromproduktion heruntergefahren werden. Und das wesentlich billiger, als wenn zuerst für viele 100 Mrd. Euro die Netze schnell ausgebaut werden müssen. Hierfür bleibt dann mehr Zeit – und es ist weniger Ausbau notwendig.