24.02.2023
Zeitdokument über den Baumkronen-Mikrokosmos im „Hambi“
Eine Filmrezension von Tatiana Abarzúa
„Vergiss Meyn Nicht“ (auf Englisch: „Lonely Oaks“) bietet eine Retrospektive auf den Herbst 2018, als die Landesregierung von NRW die Räumung der etwa fünf Dutzend Baumhäuser anordnete, die Kohlekraftgegner:innen im Hambacher Wald gebaut hatten. Seit 2012 haben Umweltaktivist:innen versucht zu verhindern, dass weitere Flächen des rund 12.000 Jahre alten Waldes „Hambi“, für den angrenzenden Braunkohletagebau gerodet werden. Der Dokumentarfilm ist ein eindrucksvolles Zeitdokument, das nachdenklich stimmt.
Steffen Meyn, ein Student der Kunsthochschule für Medien Köln (KHM), drehte 2017 und 2018 im Hambacher Forst für eine Langzeitdokumentation. Dort kam es im Herbst 2018 zu einem tragischen Unfall, bei dem Meyn tödlich verunglückte. Kommilitonen von ihm – Fabiana Fragale, Kilian Kuhlendahl und Jens Mühlhoff – sichteten sein Filmmaterial. Sie suchten Waldbesetzer:innen, die Meyn kennengelernt und gefilmt hatte, trafen sie mehrmals um über die Zeit ihres Protestes im Hambacher Forst zu sprechen. Sie waren auch am Trauern. Das Trio Fragale, Kuhlendahl und Mühlhoff führte mit ihnen Interviews, und kombinierte diese mit den Filmaufnahmen von Meyn. Über einen Zeitraum von vier Jahren entstand ihr Film, gemeinsam schrieben sie das Drehbuch und führten Regie. Sie produzierten den Film gemeinsam mit der Kölner Firma „Made in Germany“. Der Dokumentarfilm feierte vergangenen Samstag seine Weltpremiere auf der Berlinale, in der Sektion Perspektive Deutsches Kino.
Die Jury suchte für diese Sektion Filme aus, die „keine Angst vor der Realität“ haben und deren Protagonist:innen Kämpfer:innen sind, wie Jenni Zylka, Leiterin „Perspektive Deutsches Kino“ die Filmauswahl im Katalog vorstellt. Der Künstlerische Leiter der Internationalen Filmfestspiele Berlin, Carlo Chatrian, Künstlerischer Leiter der Internationalen Filmfestspiele Berlin, betont im Editorial dass das Filmfestival dieses Jahr auch Filme zeigt, „die der Wirklichkeit eine andere Welt entgegensetzen, die unseren Sehnsüchten mehr entspricht, und damit die Voraussetzungen für Veränderungen schaffen“. Kino verbinde, „gerade da, wo Meinungen auseinandergehen“, schreibt er.
Motivation hinter dem Dokumentarfilm
Das Regie-Trio entschied sich für einen Kino-Dokumentarfilm, um „möglichst vielen Leuten davon zu erzählen“, wie sie in einer Q-&-A-Session auf der Berlinale erzählen. Sie wollten den Film somit in Steffens Sinn fertig machen. Alle drei waren schon vorher im Hambi gewesen. Sie beschäftigte die Frage, wer diese Menschen waren, „mit denen Steffen so viel Zeit verbracht hat“. Die Interviews führten sie 2022 durch. Durch die zeitliche Distanz waren die Umweltaktivist:innen bereit „so offen zu sprechen“. Die Filmemacher:innen entschieden sich bewusst dafür, Aktivist:innen zu interviewen, die „nicht einer Meinung“ sind, ergänzen sie.
Facetten des Widerstands
Steffen Meyn sprach 2017 und 2018 mit vielen Aktivist:innen im Hambacher Forst, war als Journalist vor Ort und suchte den Dialog mit der Polizei. Meyns Projektarbeit für die KHM hatte den Titel „Facetten des Widerstands – Teil 1 Hambacher Forst“. Einerseits führte er eine Art Videotagebuch, in dem er über die Zeit im Hambacher Forst nachdenkt und seine Haltung zu Geschehnissen und Aktionsformen. Anderseits filmte er mit einer 360°-Kamera, die er auf einem Helm befestigt hat. „Es gab mal die Idee, dass dieser Wald virtuell erhalten bleiben muss, wenn er gerodet ist“, wie Regisseur Jens Mühlhoff (ab Minute 1:55) in einem Interview sagt.
Am 12. September 2018 forderte das NRW-Bauministerium die Stadt Kerpen auf, die Baumhäuser im Hambacher Forst zu räumen. Die ministeriale Begründung war: fehlender Brandschutz. Meyn war vor Ort, und beobachtete, dass „die Presse in den letzten Tagen im Hambacher Forst oft in ihrer Arbeit eingeschränkt wurde“, wie er 18. September auf Twitter schrieb. Deshalb entschied er sich die Räumungsarbeiten von den Baumhäusern aus zu dokumentieren. An dem Tag veröffentlichte er einen Videokommentar.
Meyn war auch bewusst, dass Polizist:innen bei Räumungsaktionen weniger rabiat vorgehen, wenn ein Pressemensch dort ist und alles filmt. Eine Szene des Dokumentarfilms, am Rande einer Demonstration, zeigt so eine Situation: Ein junger Mann wehrt sich verbal gegen die Art und Weise wie er von einem Polizisten festgehalten wird. Steffen Meyn sieht das, filmt das, bleibt dabei. Der Polizist lässt den Demonstranten los, geht weg. Der Demonstrant läuft in die andere Richtung, an Steffen Meyn vorbei, und sagt zu ihm „thanks, man!“.
Am 19. September 2018 passierte der Unfall. Meyn filmte die Räumungsaktion der Polizei im Baumhausdorf "Beechtown", und wollte über eine Verbindungsbrücke von einem Baumhaus zum Nachbarbaumhaus gehen, als ein Querholz dieser Hängebrücke brach und er aus über 20 Metern Höhe stürzte.
Der Film erzählt das ganz zu Beginn. Deshalb ist es nicht nur ein Film, der von der Trauer um ihn handelt. Vielmehr ist es so, dass das Publikum mitgenommen wird in den Wald, und die „Mikrogesellschaft“ in den Baumgipfeln. Durch die Aufnahmen von Meyn erfahren wir, wie er sich an die Aktivist:innen angenähert hat, sie nach ihrer Motivation fragte und lernte, wie sie ihr Leben in ihren selbstgebauten Baumhäusern organisierten. Der Film ist „sehr nah dran“ und deshalb eine gut beobachtete Dokumentation des Miteinanders der Protestierenden in den Baumgipfeln. Eine „Mikrogesellschaft, die sich da Verantwortung aufbürdet, die Zukunft zu ändern“, wie Fabiana Fragale nach einer Filmvorführung während der Berlinale sagt.
Sicherung des Materials
Die Filmemacher:innen konnten einen Teil des Materials nach dem Unfalltod Meyns sichern. Doch zwei SD-Karten waren lange Zeit bei der Staatsanwaltschaft, um diese auszuwerten. „Material einmal von der 360-Grad-Kamera und einmal von der Handkamera“, wie sie während der Q-&-A-Session erzählen. Die Filmhochschule half Steffens Eltern, die Speicherkarten zurück zu bekommen, wie diese auf ihrer Website mitteilt. Dort schreibt die Hochschule, dass sie zweifelsfrei feststellen konnten, „dass die beiden letzten Aufnahmen von der Speicherkarte gelöscht worden waren“.
Steffens Eltern haben das Filmmaterial „sehr weiträumig“ den drei Filmemacher:innen „anvertraut“, wie Kilian Kuhlendahl sagt. Als der Film fertiggestellt war, führten sie eine Wohnzimmervorstellung für die Eltern durch. Ebenso organisierten sie eine Vorstellung für jene Aktivist:innen, die interviewt wurden.
Die Räumung war rechtswidrig
Heute ist die rechtliche Lage in Bezug auf die Räumung von 2018 geklärt. 2021 entschied das Kölner Verwaltungsgericht, dass die durch die Landesregierung angeordnete Räumung rechtswidrig war. Begründung: Das NRW-Bauministerium hatte keinen triftigen Grund, die Brandschutzmängel als Grund wurden nur vorgeschoben. Die Weisung des Ministeriums, so das Urteil, habe klar der Vertreibung der Braunkohlegegner gedient, berichtete die tagesschau.
Ausblick
Bei der Veranstaltung auf der Berlinale sagt das Regietrio, dass sie sich erhoffen, dass ihr Dokumentarfilm zu einem gesellschaftlichen „Dialog über Klimaaktivismus“ führt. Regisseurin Fabiana Fragale würde gerne „mit RWE-Leuten“ und mit Politikern über den Film diskutieren, ergänzt sie. Der Film wird im Rahmen von „Berlinale Goes Kiez“ am 24. Februar im Kino im Zeiss-Großplanetarium gezeigt.
Ende September soll "Vergiss Meyn Nicht" regulär in die Kinos kommen.