23.10.2020
Die vergessene Verkehrspolitik
Eine Bericht von Heinz Wraneschitz
"Bereits 2019 war kein gutes Jahr, Die Absätze gingen zurück, der Markt in China hat an Schwung verloren, es gab Restriktionen in den USA." Ulrich Bareiß, einst Entwicklungsingenieur und Betriebsrat bei Audi, nimmt kein Blatt vor den Mund. Denn nicht erst Corona habe den hiesigen Autokonzernen den Absatz verhagelt, sondern "der Dieselskandal. Der belastet seit 2015 das Vertrauen, und alleine den VW-Konzern mit ca. 50 Mrd. Euro Kosten", Strafen, Schadenersatz und so weiter zusammengerechnet.
Ohnehin liegt der Anteil Deutschlands an der weltweiten Autoproduktion gerade mal 5,9 Prozent; China sei mit 26,5 Prozent an der Spitze - hierzulande vermutet man andere Verhältnisse.
Dem Gewerkschafter Bareiß war beim ver.di-Forum "Mobilität der Zukunft - Mobilität für Bürger" in Nürnberg. anzumerken, dass er das Management der Konzerne verantwortlich macht für die aktuelle desaströse, verlustreiche Lage der Autoindustrie. "Der Umstieg auf E-Mobilität war sehr zögerlich und wurde falsch eingeschätzt." Das hatten Betriebsräte der IG Metall vor einigen Jahren ebenfalls in Nürnberg vorausgesehen.
Doch ganz offensichtlich haben die Konzernlenker Von Kfz- und Zuliefer-Industrie die drohende Gefahr vollständig ignoriert. Denn die sind ja keine Unternehmer, wie oft fälschlich behauptet, sondern Angestellte mit hohen Prämien. Die bekommen sie für momentane Erfolge - aber nicht für Langfriststrategien. Doch die Gewerkschaften sorgen sich um die Arbeitsplätze der Zukunft. Die aktuelle Beschäftigungslage sei "dramatisch - und dazu kommt der Umstieg auf E-Mobilität", konstatierte Bareiß.
In Nürnberg hatten sich ver.di-Mitglieder aus der Gruppe "MTI - Meister Techniker Ingenieure" sowie aus dem Industrie- und Dienstleistungsbereich getroffen. Sie wollten diskutieren, aber auch Konzepte und Forderungen erarbeiten. An einem Faktum kamen sie dabei nicht vorbei: "Die Pandemie hat dem E-Bike endgültig zum Durchbruch verholfen", wie Bareiß an aktuellen Zahlen aufzeigte. Und aus dem Publikum kam die Anmerkung: "Eigentlich ist die ganze Fläche, die heute von Autos benutzt werden, unsinnig verwendet."
Denn die immer noch meist Verbrenner-Kfz stehen durchschnittlich 23 von 24 Tagesstunden in Garagen oder auf Parkstreifen herum, fahren täglich aber nur um die 40 km. Solche Strecken wiederum sind mit Rädern problemlos zu bewältigen, genauso wie mit E-Autos. Bei E-Mobilen seien deshalb weder Batterien mit 1.000 km Reichweite noch zigtausend zusätzliche Lademöglichkeiten die vordringlichen Probleme, war ebenfalls aus dem Publikum zu hören. Die Politik wiederum wiederholt genau das gebetsmühlenartig immer und immer wieder, offensichtlich beeinflusst von den hiesigen Auto-Konzernchefs, die dasselbe behaupten.
Doch die haben aktuell das Nachsehen, wenn es um E-Mobilität geht. Da nämlich haben andere die Nase vorn: Tesla beispielsweise habe "die Technologieführerschaft in der Antriebstechnik und beim Fahrzeugbau aufgeholt", ist Ulli Bareiß überzeugt. Denn "die haben das Auto um den Computer herum gebaut. Ein E-Mobil ist IT." Weshalb BMW, Audi und Co nun ebenfalls für Digitalisierung und Industrie 4.0 zu weiteren Investitionen gezwungen seien. Der VW-Konzern beispielsweise habe gerade erst eine Auto-Software-Schmiede gegründet, um das "IT-Herz" seiner künftigen E-Auto-Flotte selbst beeinflussen zu können.
Denn die E-Auto-Prämie wirke, an diesem Fahrzeugtyp führe kein Weg vorbei, hieß es. Doch das E-Fahrzeug alleine sei nicht die Lösung für den Verkehr in den Städten: das Nebeneinander der verschiedenen Verkehrsmittel - also Pkw, ÖPNV, Rad, und nicht zu vergessen: Fuß - müsse zu einem System vernetzt werden. "Der Strukturwandel ist unausweichlich", das steht für Bareiß fest.
In einer Innenstadt ohne Autos könne man 2,5 Meter breite Radwege leicht realisieren, wenn nicht gar mehrere Spuren für Radler mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Der Güterverkehr sei dort großteils mit Lastenrädern machbar; auch Handwerker könnten damit auskommen. Doch bis heute sei dieses Bewusstsein bei der Städteplanung noch kaum angekommen, so die Kritik des Forums. Hier sehen die Gewerkschaft gute Chancen, mitzuwirken. Deshalb haben sie ganz aktuell, gemeinsam mit Umwelt- und anderen nachhaltig orientierten Verbänden, "klimafreundliche Verkehrsplanung durch Vorrang und entschiedene Investitionspolitik für den Umweltverbund" gefordert.
Bei ver.di ist die "Transformation in eine nachhaltige Mobilität" bereits wesentlicher Teil des Leitbilds, wie Verkehrspolitik Experte Thomas Gehringer herausstellt. Doch dürfe das Streben nach dem Billigsten nicht zu Lasten von Umwelt und Arbeitsbedingungen gehen. Möglicherweise bringe Corona nur die Probleme an den Tag, die in Boomzeiten von Flugverkehr und Kreuzfahrtindustrie nicht zu sehen waren: Am Ende seien nämlich meist die Beschäftigten die Gelackmeierten. So sind laut Gehringer bei den Handelsschiffen gerade Crew-Wechsel fast unmöglich.
Aber auch wenn in Zeiten der Pandemie der ÖPNV gemieden werde: Für ver.di gelten "Erhalt und Ausbau eines flächendeckenden Verkehrs, gerade am Land, sowie die neue Verteilung des Platzes in den Städten zugunsten von Rad- und Fußverkehr" als wichtige Aufgaben für die Politik. Denn mit weniger Individualverkehr sinken auch die Klimagase.
Weil der Klimawandel "der Mega-Trend mit dem größten Potenzial zur Veränderung ist, weil existenziell", stehe die Gewerkschaft laut Gehringer auch voll hinter den Klimazielen von Bund und EU. Dabei ist der Verkehrssektor der einzige, dessen Emissionen in den letzten nicht gesunken, sondern sogar gestiegen sind. Man setze deshalb auf Technik-Innovationen am Boden, zu Wasser und in der Luft. Damit ist wohl vor allem an Wasserstoff im Güter- und Elektrizität im Personenverkehr gemeint.
Und - wer hätte es gedacht: Arbeitnehmervertreter Gehringer kritisiert ausdrücklich "die Förderung des Autos, des motorisierten Verbrenner-Individualverkehrs" wegen der hohen CO2-Emissionen. "Mehr ÖPNV ist die Antwort auf den Klimawandel. Der muss als Rückgrat der Verkehrs- und Mobilitätswende zukunftsfest gemacht werden", so sein Credo. Durch verschiedene steuerliche Maßnahmen sei das auch zu finanzieren. Doch sei auch im aktuellen Konjunkturprogramm der Bundesregierung davon nichts zu finden. Deshalb fordere ver.di einen ÖPNV-Gipfel sowie ein Personenbeförderungsgesetz, um die Sozialstandards dafür festzulegen. Denn "die Liberalisierung der Vergangenheit hat zu ruinösem Wettbewerb auf Kosten der Beschäftigten geführt".
Passend dazu hat die Gewerkschaft einige Kampagnen gestartet. Eine heißt "Umsteigen: Fahrt Richtung Zukunft". Für "nachhaltigen und sozialen Klimaschutz durch ÖPNV" schmiede man aktuell Bündnisse, zum Beispiel mit Fridays for Future, berichtet Katharina Wagner von ver.di Bayern: "Kommunen und Stadträte tun gut daran, sich an deren Ideen zu orientieren." Ver.di bringe das auch in die aktuelle Tarifrunde im Öffentlichen Dienst ein, hebt Wagner besonders hervor.
"Wir haben einen guten Verbündeten - das ist die Natur"", bestärkt sie einer der Teilnehmer des Treffens, Herwig Hufnagel. Er ist ehrenamtlich aktiv beim Solarenergieförderverein Deutschland (SFV). Der betreibt in Nordbayern eine Infostelle. Und mit vielen anderen Organisationen hat der SFV eine "Klimaklage" gegen die Bundesrepublik angestrengt, die bereits beim Bundesverfassungsgericht angekommen ist.
Sein Geld verdient Hufnagel beim regionalen Wasserwirtschaftsamt (WWA). Aus dessen Sicht schilderte er eindrücklich, wie deutlich die Klimakatastrophe in Bayern bereits zu spüren ist. Weil es in Nordbayern immer trockener wird, "pumpt das WWA inzwischen 24 Stunden am Tag Wasser im Rhein-Main-Donau-Kanal nach Norden. Bis vor wenigen Jahren geschah das nur sechs Stunden am Tag."