23.07.2021
„Fit for 55“ – ein neuer europäischer Rahmen
Eine Beschreibung von Jörg Sutter
Heftige Reaktionen hat die Veröffentlichung des „Fit for 55“ – Pakets hervorgerufen, das in der vergangenen Woche von der EU-Kommission vorgestellt wurde. Es sind Pläne, wie eine nahezu Halbierung des CO2-Ausstoßes bis 2035 gelingen soll. Doch die Betonung liegt auf „soll“: Es ist ein Vorschlag, der erst in die Umsetzung kommen kann, wenn die EU-Mitgliedsstaaten auch mitmachen.
Kompliment: Zumindest einen sympathischen Namen für das aktuelle Paket hat sich die EU ausgedacht. Es klingt ansprechender als „Winterpaket“ und das Ziel, die 55 % Prozent Reduzierung der CO2-Emissionen gegenüber 1990 innerhalb der EU, ist im Namen enthalten. Natürlich lässt es sich auch mit einem Sportprogramm für Best-Ager assoziieren – aber diese Vorstellung ist ja vielleicht gar nicht so verkehrt.
Was ist „Fit for 55“?
Unter diesem Namen hat die Kommission der Europäischen Union ein Paket von Richtlinien- und Verordnungsentwürfen zusammengefasst, die alle dem 55%-Ziel dienen sollen. Es werden darin viele verschiedenen Themen aufgerufen, die miteinander vernetzt sind. So soll die Erneuerbare-Energien-Richtlinie überarbeitet werden, die Wasserstofferzeugung geregelt und auch mehr Energieeffizienz durch Überarbeitung der entsprechenden Richtlinie sichergestellt werden. Die CO2-Grenzwerte für PKW sollen stärker sinken als bisher angestrebt und auch PPA-Verträge (langfristige Lieferverträge zum Beispiel für PV- und Windanlagen ohne Förderung) werden genannt. Ein Klimasozialfonds soll helfen, Menschen mit niedrigen Einkommen nicht mit steigenden Energie- und Transportkosten alleine zu lassen.
Die Ziele von 2030 sind dabei als Zwischenziele zu verstehen, die sicherstellen sollen, dass unser Kontinent bis 2050 klimaneutral wird, wie es die EU im „Green Deal“ beschlossen hat. „Der weltweit erste klimaneutrale Kontinent zu werden, ist die größte Herausforderung und Chance der Gegenwart“, so Ursula von der Leyen in ihrer Leitlinienvorstellung kurz bevor sie Präsidentin der Europäischen Kommission wurde.
Warum 55%?
Im vergangenen Jahr hat die EU eine Verschärfung der bisherigen Klimaziele diskutiert. Im April 2021 kam die Einigung: Europäische Kommission, der Europäische Rat und das Europäische Parlament haben sich auf 55% Treibhausgas-Senkung bis zum Jahr 2030 geeinigt, zuvor lag das Ziel bei 40 Prozent. Durch die Neufassung des Zieles wird nun die Änderung zahlreicher Richtlinien, die noch auf den alten Zielen basierte, notwendig.
Und die EU steht mit der Verschärfung der Klimaziele nicht allein: Weltweit sollen inzwischen - teils wirklich ambitioniert – die Treibhausgase reduziert werden. Die EU muss hier mitmachen, sie hat dabei nicht nur den wichtigen Klimaschutz im Auge, sondern sorgt sich auch um die Wirtschaft, die ohne entsprechende Transformationen auf vielen Märkten der Welt keine Chance mehr hätte. Die Autoindustrie und die staatlichen Anforderungen auf dem chinesischen Markt sind hier ein gutes Beispiel. „Ein solch beschleunigter Wandel birgt Chancen für zukünftige innovative Wertschöpfung in einer an sich gut aufgestellten und starken Industrie. Es verstärken sich aber auch die industrie- und beschäftigungspolitischen Risiken“, so die IG Metall dazu.
Inhalte und Reaktionen
Keine neuen Benzinautos mehr, eine Steuer auf Flugbenzin und Schiffstreibstoffe und höhere Kosten für das Heizen mit Öl, Gas oder Kohle – die Vorschläge gleichen einer Revolution. Die plakativsten Rektionen nach der Vorstellung des Paketes hat die verschärfte Absenkung der PKW-Grenzwerte hervorgerufen. Klar: Dieses Thema ist sensibel und die Autohersteller stehen derzeit schon wegen Corona, Lieferengpässen bei Chips und der Änderung des Mobilitätsverhaltens gewaltig unter Druck. Erstaunlich ist hier, welches Tempo die EU vorlegt: Die letzte Verschärfung der PKW-Grenzwerte wurde erst 2019 beschlossen. Die Hersteller sagen hier: wir brauchen jetzt einmal eine langfristige Planungssicherheit und nicht alle zwei Jahre neue Anforderungen.
Klar ist: Eine weitere Verschärfung des CO2-Ziels macht die Elektrifizierung des Verkehrs mindestens bei den PKW unumkehrbar, der vollelektrische PKW wird zukünftig der neue Standard sein. Auch stehen nach heutiger Abschätzung bis 2030 keine anderen Techniken großtechnisch zu Verfügung, die eine alternative Erreichung der Ziele ermöglichen. Und: Das EU-Paket enthält auch den Aufbau einer europaweiten Ladeinfrastruktur. Bei uns derzeit schon kräftig am Wachsen, aber zum Beispiel in Südosteuropa praktisch noch nicht existent: Ein engmaschiges Netz von Ladesäulen für die Elektromobilität.
Die Autoindustrie wehrt sich, doch nicht ganz so, wie es zu erwarten war: Nicht offen gegen die Ziele (das wäre politisch ein Risiko), sondern gegen die alleinige Verantwortung der Umsetzung wird gewettert: Sie sieht vor allem die Politik und auch andere Wirtschaftszweige wie die Energiewirtschaft in der Pflicht, für die Elektroautos z.B. die Ladeinfrastruktur zu schaffen und damit erst die Absatzmöglichkeiten der Elektroautos in großem Umfang zu ermöglichen. Andernfalls würden die Autohersteller mit Strafzahlungen belegt, wenn die Kunden zu wenig E-Autos kaufen, weil die Infrastruktur nicht vorhanden ist. „Der beschleunigte Ausbau einer flächendeckenden Ladesäuleninfrastruktur in ganz Europa ist eine wichtige Grundbedingung dafür, dass die Unternehmen neue Ziele auch erreichen können“, so VDA-Präsidentin Hildegard Müller. Und der Verband betont weiterhin die Wichtigkeit der Technologieoffenheit.
Allgemein will die EU-Kommission ein separates Emissionshandelssystem für den Straßenverkehr und den Gebäudesektor schaffen, das CO2-Emissionen aus diesen Bereichen kostenpflichtig macht. Innereuropäische Flüge und Kreuzfahrten werden in Zukunft damit teurer werden, es trifft also nicht nur den Autoverkehr.
Aus der Industrie ist zwar Kritik zu hören, aber die EU hat schon eine wirtschaftsfreundliche Regelung in ihre Vorschläge integriert: So soll ein sogenannter Grenzausgleichsmechanismus vor ausländischen Mitbewerbern, die geringeren Klimaschutzauflagen genügen, schützen. Es ist vorgesehen, auf Importe dieser Güter eine CO2-Abgabe einzuführen. Ein Teil der Industrie hat trotzdem Angst, vor allem die Branchen mit großem Exportanteil, denn in der Konkurrenzsituation auf dem Weltmarkt hilft der Grenzausgleich wohl nicht, so die Sorge.
Spannend für uns ist vor allem die RED III, also die Neufassung der Erneuerbare-Energien-Richtlinie. Damit soll der Anteil der Erneuerbaren Energien von 19,7 Prozent im Jahr 2019 auf 40 Prozent im Jahr 2030 erhöht werden. Eine Darstellung dazu finden sich in diesem Faktenpapier der EU.
Der Vorschlag der RED III ist mit 469 Seiten wieder ein bürokratisches Monsterwerk. Der Inhalt in kurzen Worten beschrieben: Die Mitgliedsstaaten sollen einen Rahmen schaffen um 40% REG-Anteil zu schaffen, indem sie Markthemmnisse abbauen, sowohl für die Energietechniken selbst als auch für das Thema Speicher. Schulungsprogramme sollen gestartet werden, um den ja schon heute bestehenden Fachkräftemangel im Bereich der Energietechniker und Installateure zu bekämpfen. Und das System der Herkunftsnachweise soll ausgebaut und harmonisiert werden.
Auch hat die EU verstanden und in die RED III hineingeschrieben, dass die Photovoltaik im Vergleich zu Kohle und Gas doppelt so viele Arbeitsplätze pro produzierter Kilowattstunde generiert.
Wie geht es weiter?
Nach der Vorstellung der Kommissionspläne stehen nun die Verhandlungen mit dem Europäischen Rat und dem Europäischen Parlament an. Nach einer Einigung dort, die nicht leicht werden wird, könnten die Richtlinien verabschiedet werden. Anschließend haben dann die Mitgliedsstaaten der EU nach einer Übergangszeit die Regelungen jeweils in nationales Recht umzusetzen. Man sieht also: Von der jetzt formulierten Zielvorstellung bis zur konkreten Umsetzung ist es noch ein langer Weg.
Das weiß auch die EU: Kommissions-Vizepräsident Frans Timmermans räumte bei der Präsentation von „Fit for 55“ offen ein: "Alles, was wir heute vorgestellt haben, wird nicht einfach - es wird verdammt hart".
Die EU-Umweltminister haben sich am 20. Juli getroffen und beratschlagt. Von deutscher Seite war Staatssekretär Jochen Flasbarth dabei. Sein Statement: „Ich bin heute hier, um die Vorschläge der Kommission zu unterstützen“. Doch sowohl bei der EU als auch in den Mitgliedsländern und der Wirtschaft werden noch etliche Bremser im Weg stehen. Und selbst wenn sich die EU auf eine Umsetzung der Inhalte tatsächlich konkret verständigt: Am Beispiel der Erneuerbaren-Energien-Richtline und der Nicht-Umsetzung im Bereich der gemeinschaftlichen Eigenversorgung seit 3 Jahren in Deutschland (Bild 3) wird deutlich, dass auch nach einer Verabschiedung keine letztendliche Sicherheit für eine tatsächliche Umsetzung gegeben ist.
Gutes Beispiel:
Österreich geht voran Warum machen wir es nicht wie Österreich? Dort hat der Bundesrat in der vergangenen Woche ein Gesetz passieren lassen, das über die EU-Ziele hinausgeht: Zumindest im Strombereich sollen in der Alpenrepublik 100 Prozent Erneuerbare Energien schon bis 2030 erreicht werden. Das entspricht genau der Forderung, die der Runde Tisch Erneuerbare Energie (RTEE, www.energiewende-2030.de) auch für Deutschland formuliert hat. Eine Woche zuvor hatte der Nationalrat das neue „Erneuerbare-Ausbau-Gesetz“ beschlossen, in dem 1 Mrd. Euro Fördergelder sowie Zuschläge, z.B. für PV-Carports und Agri-PV enthalten sind.
Hoffentlich macht sich hierzulande eine neue Regierung nach der Bundestagswahl im September das neue „Fit for 55“- Ziel für die deutsche Politik zu eigen. Denn die Umstellung ist groß: Umweltministerin Svenja Schulze spricht von „einer neuen industriellen Revolution, angeführt von der Europäischen Union“.