21.10.2022
„Autokorrektur“ – korrigiert und kommentiert
Eine Buchbesprechung von Götz Warnke
Als Buchrezensent von Fach- und Sachbüchern für die Zeitschrift SONNENENERGIE hat man es eigentlich gut: Man erhält ein interessantes Buch, das man lesen und dann besprechen darf. Meist sind die Bücher inhaltlich auf hohem Niveau, und einige Autoren wie Volker Quaschning, Hans-Josef Fell oder Christof Drexel sind in dieser Hinsicht auch eine „sichere Bank“. Da reichen dann lobende Worte und viele Sterne; die Kritik betrifft meist nur Einzelpunkte und ist schnell beschrieben.
Komplizierter wird es, wenn ein Buch an ganz vielen Stellen hakt und Fragen hinterlässt. Dann reicht der Platz in der SONNENENERGIE nicht mehr; daher findet sich diese Buchbesprechung ausnahmsweise in den DGS-News. Es geht um Katja Diehls "Autokorrektur - Mobilität für eine lebenswerte Welt".
Die Autorin
Diehl (*1973) kommt aus dem PR-Bereich, hat dann entsprechend in der Logistikbranche sowie in anderen Unternehmen gearbeitet, und 2017 die feministische (Podcast-)Plattform „She Drives Mobility – Kommunikation und Beratung“ gegründet, über die sie sich selbst als Speakerin und Moderatorin vermarktet. Daneben ist sie ehrenamtlich im Bundesvorstand des Verkehrsclub Deutschland, verschiedenen Beiräten und mit über 50.000 Followern auf Twitter unterwegs.
Das Buch
Es besteht aus vier Teilen (Mobilität, Raum, Mensch, So geht Mobilität für alle), wobei es sich bei „Mensch“ als dem umfangreichsten Teil des Buches um eine Reihe von Interviews handelt, die die Autorin mit verschiedenen „Betroffenen“ geführt hat. Der Autorin geht es dabei um eine Mobilität, „die die Bedürfnisse aller Menschen berücksichtigt – Menschen mit Einschränkung, Kinder, Menschen auf dem Land und in der Stadt, Frauen, Männer, nicht-binäre Menschen, BIPoC“. (Klappentext). Die derzeitige Vorherrschaft des Autos, die uns das „gute Leben“ raubt, ist hingegen das Werk von weißen, genuin heterosexuellen, wohlhabenden Männern. Diese Vorherrschaft muss mittels „Autokorrektur“ gebrochen werden. „Die Vision meiner #Autokorrektur ist eine kinderfreundliche, barrierearme und entschleunigte Stadt", frei von privaten PKWs.
Das Merkwürdige
- „Dieses Buch will eines nicht: einzelne Techniken beleuchten, beginnend mit elektrischen Antrieben …, denn diese werden nicht in der Lage sein, Lösungen zu schaffen, wenn das Verhalten dasselbe bleibt.“ (S.12) Ein sehr merkwürdiger Satz für eine Mobilitätsexpertin, die eigentlich wissen müsste, dass das E-Fahrrad sich stark verbreitet und vielen Nutzern zunehmend als Autoersatz auf dem Arbeitsweg dient, dass z.B. elektrische, autonome Shuttlebusse in der künftigen Mobilität eine größere Rolle spielen werden, insbesondere bei der Reduzierung der privaten PKW.
- „Eine gesunde Mobilität spiegelt eine gesunde Gesellschaft.“ (S.241) Diehl verwendet den Gegensatz gesund←→krank häufiger, wobei vom Auto geprägte Räume meist als krank beschrieben werden.(z.B. S. 92) Abgesehen davon, dass diese Gegensatz-Phrase zumindest seit dem „gesunden Volksempfinden“ zu recht außer Mode gekommen ist, und sie heute selbst in der Medizinethik kritisch gesehen wird: es gibt durchaus autofreie, aber dennoch dysfunktionale Plätze wie u.a. den Hamburger Hansaplatz.
- Diehl sieht sich selbst nicht als Autogegnerin, aber manche ihrer Aussagen deuten in eine andere Richtung, etwa: „Meine Stadt ist befreit vom privaten PKW.“ (S.84) Oder der Vorwurf, das Auto würde uns das gute Leben rauben. (S.119) Oder: „… das Auto muss raus aus unserer Denke.“ (S. 122). Auch ihre Weigerung, sich mit elektrischen Antrieben zu befassen, kann man in diese Richtung deuten, da das E-Auto vom Vorwurf der Lärm- und Abgasquelle entlastet ist.
- Diehl zeigt bisweilen ein merkwürdiges Freiheits- und Rechtsverständnis, etwa: „Es wird auf ‚die Freiheit‘ verwiesen. Warum? Gibt es dieses Recht überhaupt, wenn viele von diesem ausgeschlossen sind?“ (S.74) Gegenfrage: Soll man die Freiheitsrechte etwa abschaffen, weil sie in Diktaturen oder als Schwerstbehinderte nicht nutzbar sind? Und zum Thema autofreie Quartiere: „Es kann nach Aussage von handelnden Personen vor allem auch funktionieren, die Bewohner:innen nicht zu ihrer Meinung über potentielle Veränderungen zu befragen, sondern sie stattdessen mit vollendeten Tatsachen zu konfrontieren und ihnen dann zu ermöglichen, das Neue zu gestalten.“ (S.234) Ist etwa Bürgerbeteiligung nur dann richtig, wenn ihre zu erwartenden Ergebnisse den eigenen ideologischen Zielen entsprechen?
- Manche Abschnitte des Buches haben nichts mit Mobilität zu tun, etwa wenn öffentliche Papierkörbe so hoch aufgehängt werden, dass man sie nicht durchwühlen kann, oder wenn eine Transperson beklagt, dass Frauen sie nicht auf der Frauentoilette dulden wollen. (S.96 f.)
Die Fehler
Das Buch beinhaltet eine Fülle an Fehlern, so dass hier nur auf eine kleine Auswahl eingegangen werden kann:
- Diehl schreibt auf S. 18 zur Verkehrsgeschichte: „Vor allem in den Städten sorgte die Trennung von Fuß- und Pferdeverkehr für eine größere Sicherheit der ungeschützten Fußgänger:innen, damit war die erste Hierarchie im Straßenraum etabliert …“ Dagegen schreibt sie auf S. 22: „Letztlich sorgte das Auto für die Abschaffung der ‚Shared Spaces‘ – öffentlicher Räume ohne Unterteilung in Verkehrszonen. Weil die Verletzungsgefahr für Fußgänger zu hoch wurde.“ Die Aussagen S. 22 sind natürlich falsch, zumal auch schon die vor dem Auto aufkommenden Eisenbahnen keine Shared Spaces duldeten.
- Diehl schreibt auf S. 19 als Kapitelüberschrift „Das Fahrrad – Symbol feministischer Mobilität“, und S. 44: „Übrigens: Auch das Fahrrad ist ein Macho, der nur nach den Bedürfnissen von Männern gestaltet wurde...“
- „‘Mein VCD’ fordert daher: Kein Mensch darf mehr im Verkehr sein Leben verlieren“, so Diehl auf S. 56. Die Forderung ist so absurd, dass man nur hoffen kann, sie möge nicht vom VerkehrsClub Deutschland stammen, weil man ansonsten an dessen Kompetenz zweifeln müsste. Noch nie hat es einen Verkehr ohne Tote gegeben, seien es abgestürzte Bergwanderer, abgeworfene Reiter oder aus der Kurve gerutschte Radfahrer. Selbst die innerhäuslichen Verkehre auf Treppen, Leitern und glatten Fußböden kosten jährlich viele Menschenleben.
- „Autofreie Innenstädte in Metropolen wie Madrid und Barcelona finden wir klasse. Radstädte wie Kopenhagen oder Amsterdam bewundern wir ...“ schreibt Diehl S. 85. Nun ist aber Amsterdam trotz der vielen Fahrräder keine Radstadt, sondern eine Stadt des Shared Space, wo sich Autofahrer, Radfahrer, (E-)Motorroller und Klein-Autos/Leichtfahrzeuge entspannt den Raum teilen – pragmatisch-liberal-holländisch. In Madrid ist die Innenstadt nicht mehr autofrei, in Barcelona allerdings noch, und zwar seit dem Mittelalter: Die engen, dunklen Gassen, in denen man früher den Entleerungen der Nachttöpfe aus den oberen Etagen ausweichen musste, widerlegen noch heute aufs Schönste Diehls These (S. 86) vom Flanieren und Repräsentieren in der vorindustriellen Stadt.
- Der ländliche Raum verlor, anders als Diehl S. 98 f. suggeriert, die Einkaufsmöglichkeiten und die Anbindung an die öffentlichen Verkehre nicht durch das Auto, sondern durch die Landflucht, den Wegfall von Arbeitsplätzen und Menschen im Zuge der Mechanisierung mit Mäh- und Melkmaschinen. Ohne die Verbreitung des Autos dürfte die Bevölkerungsdichte auf dem Lande heute eher noch geringer sein.
Dies soll genügen; vieles andere wäre noch zu diskutieren.
Die Betroffenheit
Das Buch lebt sehr stark von persönlichen Betroffenheiten, ja es zelebriert diese geradezu. Da sind zum einen die Aussagen der Autorin wie: „Mein Ziel? ‚Jeder sollte das Recht haben, ein Leben ohne eigenes Auto führen zu können.‘“ (S.11) Dieses Recht hat ja bereits heute per Gesetz jeder! Ob es dem einzelnen dann auch noch erstrebenswert erscheint, wenn er im Schneesturm einer Winternacht 20 Minuten auf das Moia-Shuttle warten muss, ist sein Privatproblem. Und auch das geforderte Grundrecht auf Mobilität (S. 177) gibt es bereits: zu Fuß oder mit dem Fahrrad!
Ebenfalls betroffen geht es bei vielen Interviews im Teil „Mensch“ zu, wobei nicht einmal klar ist, inwiefern die Interviewpartner überhaupt repräsentativ sind. John z.B. erspart sich das Geld für einen Autokauf, klagt aber über lange ÖPNV-Fahrtzeiten ins Grüne (S. 145 f.) – er zahlt für seine gewünschte Mobilität halt mit Zeit. Lisa hat aus Zeit- und Geldmangel keinen Führerschein und kein Auto (S. 149); jetzt fühlt sie sich „unmündig, einfach weil ich kein Auto fahren kann und möchte“ – wie wär‘s mit einem schicken Pedelec?! Mimi, die mit ihrem Freund in eine Gegend mit schlechter ÖPNV-Anbindung zieht (S. 150), kann man ebenso wie Paula, die die Nähe eines Naturschutzgebietes dem Wohnen in der Stadt vorzieht (S. 152 f.), nur raten, sich statt eines teuren Autos einen viel günstigeren E-Motorroller anzuschaffen – schon ist das Problem gelöst. Die meisten dieser Interview-Geschichten ließen sich individuell, einfach und pragmatisch lösen. Der offensichtliche hohe Anspruch bei manchen Interviewten, die Gesellschaft sollte sie doch mit einer möglichst bequemen und möglichst kostengünstigen Mobilität versorgen, ist unrealistisch.
Fazit
Ja, im Buch gibt es auch sinnvolle Ansätze wie die Kritik am Dienstwagenprivileg (S. 49 f.) oder die Idee der temporären, bedarfsgerechten Neuverteilung der Verkehrsflächen (S. 69). Doch wenn Katja Diehl sich „eher als objektive Expertin für Mobilität“ (S. 63) sieht, ist sie das zumindest ausweislich ihres Buches nicht. Für eine Mobilitätsexpertin macht sie einfach zu viele Fehler. Sie wirkt eher als „Missionarin“ einer Auto-phoben, feministischen Verkehrs-Ideologie. Damit findet sie natürlich in gewissen Kreisen Anklang, aber für ein „Kick-Off einer Gesellschaft ..., die gemeinsam eine attraktive, lebenswerte und klimafreundliche Mobilitätszukunft für alle baut“ (S. 12) reicht das natürlich nicht.
Dem S. Fischer Verlag hätte in diesem Fall ein sorgfältiges und qualifiziertes Lektorat gut zu Gesicht gestanden.
Autokorrektur - Mobilität für eine lebenswerte Welt
Katja Diehl
S. Fischer Verlag GmbH
3. Aufl. März 2022
Paperback 262 Seiten, € 18,00
ISBN-13: 9783103971422