19.10.2018
Erdgas und die mittel- bis langfristige Parkposition wird nicht gehen
Die Diskussion über unsere Haltung als DGS zu Erdgas läuft weiter. Dabei kommen neben den klimaschädlichen Vorkettenemissionen beim Erdgas interessanterweise auch vergleichbare Vorkettenemissionen bei der Kohle zur Sprache, die durchaus relevant für die laufende Kohleausstiegsdiskussion sind. Deshalb wollen wir sie nicht unerwähnt lassen, auch wenn das für einen Moment von unserem Thema Erdgas wegzuführen scheint. Für viele Zuschriften aber gilt, dass ihre Autoren sich im Augenblick schwer vorstellen können, während der laufenden Auseinandersetzungen um einen Kohleausstieg auch einen Ausstieg aus dem Erdgas zu fordern. Die Gründe mögen unterschiedlich sein, sei es, dass DGS-Mitglieder als Energieberater oder Installateure mit den Vorstellungen und Wünschen ihrer Kunden konfrontiert sind und darüber hinaus vielleicht auch geschäftlich z.B. von einer Erdgas-Brennwertheizung profitieren oder sei es, dass sie es politisch-taktisch für zu schwierig halten, mit den Thema Erdgasausstieg "noch eins drauf zu setzen".
In dieser Situation hilft es wenig, die Widersprüche unter den Teppich zu kehren. Denn die Mehrzahl der Zuschriften handeln ja genau davon und thematisieren sie ungewöhnlich deutlich: "Ich würde sagen, wenn Kohle die Pest ist, ist Erdgas die Cholera. Auch gefährlich, aber noch etwas besser behandelbar. Natürlich macht es Sinn, vorübergehend das kleinere Übel zu wählen, aber mittel- und langfristig müssen wir aus allen fossilen Energieträgern raus, da sind wir uns wohl einig." Die Qual, aus der Erdgasverbrennung aussteigen zu wollen, aber keine direkte Lösung zu finden, drückt sich eben darin aus, dass man auf eine Art Stufenplan verfällt, der zuerst die "Pest Kohle" angeht und danach "mittelfristig", sich der "Cholera Erdgas" zuwendet. Oder aber die Hoffnung formuliert, einen irgendwie harmonischen Übergang von der fossilen Verbrennung zu einer klimaverträglich Verwendung zu finden: "Aber wie schon geschrieben, handelt es sich bei Erdgas um einen fossilen Brennstoff. Daher müssen wir langfristig auch aus Erdgas aussteigen. In einer Übergangszeit können Erdgaskraftwerke als Backup dienen. Langfristig müssen diese Anlagen mit erneuerbarem Gas betrieben werden, mit über Power-to-H2 oder Power-to-CH4 erzeugtem Gas".
Dabei fällt auf, wie methodisch unterschiedlich an das Thema herangegangen wird. Ingenieure und technisch versierten Autoren fällt es leicht, eine präzise Einschätzung zum Beispiel für H-Erdgas (aus GUS-Staaten) zusammen zu stellen. So kommt Hermann Ramsauer zu einer Emissionssumme der CO2 Äquivalente von 0,66 kg CO2Äq je kWh Strom und bestätigt, damit liege man im GuD-Kraftwerk immer noch deutlich unter der Kohle (Braunkohle ca. 1kg/kWh, Steinkohle ca. 0,8 kg/kWh). "Aber natürlich ist die "Einsparung" durch Umstieg auf Gas deutlich schöngerechnet, wenn man die Gasverluste nicht berücksichtigt". Allerdings sei auch bei der Kohle die Methanemission im Bergwerksbetrieb hinzuzurechnen. "Vermutlich liegt diese in ähnlicher Größenordnung wie bei Erdgas - wenn man sich ansieht, welch riesige Lüftungsanlagen zum "Bewettern", d.h. zur Verhinderung zündfähiger Methan/Luft-Gemische dort eingesetzt werden." Und Werner Weindorf bestätigt diese Sicht auf die Methanemissionen aus dem Kohlebergbau und schreibt: "Im Mix geliefert an die EU etwa 1,39 g CH4 po kWh Kohle (mehr als bei Erdgas). Einige Kohleminen sind günstiger wie z.B. Australien (0,39 g pro kWh Kohle nach Ecoinvent 2007)".
Auch die Unterscheidung von Erdgas aus GUS-Staaten und Fracking-Gas aus den USA wird deutlich herausgearbeitet. So führt Werner Weindorf eigene Arbeiten im Rahmen einer noch unveröffentlichten Studie an und meint, russisches Erdgas würde bei den Vorkettenemissionen deutlich unter 3 Prozent liegen und (bezogen auf den unteren Heizwert) sogar bei nur 1,2 Prozent. Beim US-Frackinggas, über das die EU gegenwärtig im Rahmen der Handelsgespräche mit den USA verhandelt, sieht das wiederum völlig anders aus. Entsprechende Werte und Einschätzungen hatten wir ja bereits in den vorangegangenen Artikel angeführt. Genau da aber wird das Ganze Dilemma deutlich. Sollen wir unterscheiden zwischen "gutem" Erdgas aus GUS-Staaten und "bösem" aus den USA? Oder sollen wir einen Mittelwert bilden, an dem wir uns ingenieurstechnisch orientieren könnten? Was machen DGS-Mitglieder, deren Sympathie für Putin gleich schwach entwickelt ist, wie für Trump? Man nennt das ja Äquidistanz, aber die hilft auch nicht.
Was auffällt ist hingegen die Schwierigkeit einer Reihe von Leserbriefautoren, sich mit einer vergleichbaren Präzision mit den wissenschaftlichen Ergebnissen der Klimaforschung auseinander zu setzen. Das ist nicht als Kritik gemeint, es versucht aber, die historische Prägung und Zusammensetzung der Mitgliedschaft zu reflektieren. Für viele von uns ist die Auseinandersetzung mit den Fakten der Klimaforschung neu und die Konsequenzen schwer überschaubar. Das stellt sich gerade am Beispiel des Erdgases heraus. In der vergangenen Woche hatten wir über den Sonderbericht "Global Warming of 1.5°C" des Weltklimarats (IPCC) berichtet. Für geschlagene zwei Tage beschäftigte der auch die Massenmedien. Danach war wieder Fußball oder Bayernwahl. Aber die Frage, ob die Aussagen dieses Berichtes sich mit der Theorie eines Stufenplanes, erst Kohleausstieg dann Erdgas weg, vereinbaren lassen, wird nicht gestellt. Für die Energiekonzerne scheint das aber ein ausgemachter Fahrplan zu sein. Der IPCC-Sonderbericht sagt aber eindeutig, dass wir keine Zeit verlieren dürfen und die globale Erwärmung das Limit von 1,5 °C wahrscheinlich zwischen 2030 und 2052 erreicht. Wie passen da eine Erdgaspipelines durch die Ostsee rein, deren Lebensdauer und wirtschaftliche Ziele auf mindestens 60 Jahre ausgelegt sind?
Noch deutlicher lässt sich dies an einer internationalen Studie aufzeigen, an der das Potsdam Institut für Klimafolgenforschung (PIK) führend beteiligt war. Darin geht es, gleichfalls mit wissenschaftlicher Akribie, um zehn natürliche Rückkopplungsprozesse, von denen einige mit den sogenannten Kippelementen im Erdsystem verknüpft sind. Durch das Überschreiten kritischer Schwellen könnten diese in fundamental andersartige Zustände versetzt werden. Die Rückkopplungen könnten z.B. Kohlenstoffspeicher in Kohlenstoffquellen verwandeln, die in einer entsprechend wärmeren Welt unkontrolliert Emissionen freisetzen würden. Zu den kritischen Prozessen gehören insbesondere tauender Permafrost, der Verlust von Methanhydraten vom Meeresboden, eine Schwächung von Kohlenstoffsenken an Land und in den Ozeanen, eine zunehmende bakterielle Atmung in den Ozeanen, das teilweise Absterben des Amazonas-Regenwaldes sowie der borealen Wälder, eine Verringerung der Schneedecke auf der Nordhalbkugel, der Verlust von arktischem und antarktischem Meereis sowie das Schrumpfen der großen Eisschilde.
Führt der Einsatz von Erdgas nicht geradewegs zu den Kippelementen in der globalen Umwelt, die sich - sobald ein bestimmtes Belastungsniveau einmal überschritten ist - grundlegend, schnell und möglicherweise irreversibel verändern könnten? "Gewisse Kaskaden solcher Ereignisse könnten das gesamte Erdsystem in eine neue Betriebsweise kippen", sagt dazu Hans Joachim Schellnhuber, Ex-Direktor des PIK. "Was wir derzeit noch nicht wissen, ist, ob das Klimasystem sicher bei etwa 2°C über dem vorindustriellen Niveau 'geparkt' werden kann", wie es das Pariser Abkommen suggerierte. Aber auf die Möglichkeit einer Parkposition zielen ja die Argumente, die "mittel- und langfristig" aus dem Erdgas aussteigen wollen. Oder, um es anders auszudrücken, wir sind uns noch längst nicht einig und werden noch eine Menge Arbeit in dieses Thema investieren müssen.
Sonderbericht „Global Warming of 1.5°C“ des Weltklimarats (IPCC), DGS-News vom 12.10.18
Klima: Zwischen Problem und Antwort klafft eine große Lücke, DGS-News vom 12.10.18
Der Begriff der "Heißzeit" schlägt ein wie eine Bombe, DGS News vom 10.08.2018
Auf dem Weg in die "Heißzeit"? Planet könnte kritische Schwelle überschreiten, PIK, 09.08.18