17.09.2021
EuGH: Energiecharta-Schiedsverfahren nicht mit EU-Recht vereinbar
Ein Bericht von Tatiana Abarzúa
Anfang September hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschieden, dass Schiedsverfahren auf Grundlage des Vertrags über die Energiecharta (Energy Charter Treaty, ECT) nicht mit EU-Recht vereinbar sind. Somit kann das in den 90er Jahren ausgehandelte Abkommen nicht in Gerichtsverfahren zwischen EU-Ländern verwendet werden. Das ECT stellt das erste Abkommen dar, „das alle Republiken der ehemaligen Sowjetunion, die ehemaligen Staatswirtschaftländer Mittel- und Osteuropas und die OECD-Mitgliedsländer (mit Ausnahme der USA, Kanadas, Mexikos und Neuseelands) zusammenführt“, wie der Einleitung zum Vertrag zu entnehmen ist.
Mit der Begründung, dass neue gesetzliche Regelungen bei Sozial- oder Umweltgesetzen die Gewinne aus ihren Investitionen im Energiesektor beeinträchtigen, können ausländische Investoren Staaten vor eigens geschaffenen Schiedsgerichten verklagen und millionenschwere Schadensersatzzahlungen verlangen. Im ECT wird eine Verschlechterung von Investitionsbedingungen als enteignete Investition bezeichnet. Die privaten Schlichtungsverfahren heißen Investor-Staat-Streitbeilegung (Investor-State Dispute Settlement, ISDS). Auf der vom Sekretariat der Energiecharta betriebenen Internetpräsenz sind insgesamt 142 Fälle angegeben, bei denen sich ausländische Investoren auf die Investitionsschutzklausel berufen.
Komstroy LLC vs. Moldawien
In den Fall, über den das EuGH kürzlich entschieden hatte, ging es um eine Klage des ukrainischen Energiekonzerns Komstroy LLC gegen die Republik Moldau. Das EuGH gab dem moldauischen Staat Recht, der sich gegen das Ergebnis des ISDS-Schiedsverfahrens gewehrt hatte und 2019 vor den EuGH zog. Komstroy LLC hatte das südosteuropäische Land auf Grundlage der Energiecharta vor einem privaten Schiedsgericht verklagt, welches es zur Zahlung von 49 Millionen US-Dollar verurteilt hat. Mit dem aktuellen Urteil legte das EuGH fest, dass solche Schiedsgerichte nicht für Klagen innerhalb der EU zuständig sein können. Nur ein zum Gerichtssystem der Union zugehöriges Gericht könne „die volle Wirksamkeit des Unionsrechts“ gewährleisten. Folglich darf ein europäischer Investor keinen Mitgliedsstaat der EU verklagen. Rund zwei Drittel der durch das ECT geschützten Investitionen beziehen sich auf Investments innerhalb der EU. Somit entzieht das EuGH mit dem Urteil dem Großteil der derzeit laufenden ECT-Verfahren die Grundlage. Mehrere laufende EU-interne Klagen von europäischen Energiekonzernen richten sich gegen EU-Staaten, die aus Kohle- und Atomkraft aussteigen wollen. Wie die Klage von RWE und Uniper gegen den für das Zieljahr 2030 geplanten Kohleausstieg in den Niederlanden, bei dem eine Verkürzung der Laufzeit der Kraftwerke vorgesehen ist.
Sonderklagerechte als Verhandlungsinstrument
Der ECT-Vertrag hat eine abschreckende Wirkung auf ehrgeizige politische Maßnahmen, die in Richtung Klimaneutralität abzielen. Beispielsweise führen ISDS-Schiedsverfahren hin und wieder zu Vergleichen zwischen dem klagenden Investor und der verklagten Regierung, und zu abgeschwächten Umweltstandards oder sehr hohen Entschädigungszahlungen. Ein Beispiel aus Hamburg: Der Bau des geplanten Steinkohlekraftwerks im Stadtteil Moorburg war bereits weit fortgeschritten, da die CDU eine weitreichende Vorgenehmigung erteilt hatte. Die 2008 neugewählte Schwarz-Grüne Koalition konnte den Bau nicht mehr verhindern, verschärfte jedoch die Umweltschutzauflagen im Rahmen der Genehmigung. Sie forderte den Bau eines zusätzlichen Kühlturms und Einschränkungen bei der Kühlwasserentnahme aus der Elbe, um das Kraftwerk zumindest zu drosseln und die negativen Auswirkungen zu mindern. Vattenfall verklagte daraufhin die Bundesrepublik vor einem Schiedsgericht in Washington um 1,4 Mrd. Euro und bezeichnete die verschärften Umweltauflagen als „Enteignung". Das ISDS-Verfahren „endete in einem Vergleich, der die Regierung von Hamburg zwang, einen Teil der Umweltauflagen wieder zurückzunehmen, und Schadensersatz zu zahlen (die DGS-News berichteten).
Ein weiteres Beispiel: Der beschlossene Kohleausstieg. Für die Stilllegungen sollen die Betreiber von Braunkohlekraftwerken 4,35 Mrd. Euro erhalten: 2,6 Mrd. Euro für RWE, 1,75 Mrd. für die LEAG (die DGS-News berichteten). Diese Entschädigungszahlungen „sollen insbesondere potenzielle entgangene Gewinne ausgleichen“, im Gegenzug verzichten die Kohlekonzerne „auf Klagen gegen Stilllegungen ihrer Anlagen“ (FAQ Kohleausstiegsgesetz).
Wie weiter?
Umweltbewegte ziehen Hoffnung aus dem Urteil, da sich so Staaten gegen Klagen wehren können. Der Zeitpunkt ist günstig, da die anstehende Verschärfung der Klimaziele vieler Länder in Europa eine Klagewelle von Konzernen nach sich ziehen könnte, die sich dabei auf die Energiecharta berufen.
Nach Angaben des Bündnisses Climate Action Network (CAN) Europe, könne das EuGH-Urteil das Ende des ISDS-Mechanismus bedeuten, da es die Rechtmäßigkeit laufender Klagen in Frage stellt. „Souveräne Regierungen sollten in der Lage sein, Maßnahmen gegen den Klimawandel zu ergreifen, ohne zu befürchten, dass Konzerne der fossilen Energiewirtschaft diese schiedsgerichtlich anfechten“, meint Amandine Van Den Berghe. Die Rechtsanwältin der Umweltrechtsorganisation Clientearth betont, dass es nicht nur verabscheuungswürdig sei, „dass EU-Unternehmen den Vertrag über die Energiecharta nutzen, um Entschädigungen zu fordern, sondern es ist jetzt auch bestätigt, dass dies illegal ist“.
Allerdings hätten „Schiedsrichter die Tendenz, den Europäischen Gerichtshof einfach zu ignorieren“, wie Anna Cavazzini, Sprecherin der Grünen für Investitionspolitik, zur FAZ sagte. Deshalb fordert sie „eine grundsolide Entscheidung des Rates, dieses Urteil auch umzusetzen und so weitere Fälle zwischen den Mitgliedstaaten zu vermeiden“. Wie ein Unternehmenssprecher von RWE dem Handelsblatt mitteilte, sehe der Konzern das Klageverfahren gegen die Niederlande vorerst nicht gefährdet, da in über 30 vergleichbaren Schiedsverfahren festgestellt worden sei, dass EU-Recht der Anwendung des Energiecharta-Vertrags nicht entgegenstehe: Er ergänzt, dass letztlich das Schiedsgericht entscheide, welche Relevanz die Entscheidung des EuGH habe.
Bisher ist Italien das einzige Land, das aus dem ECT ausgestiegen ist. Jedoch können Investitionen von ausländischen Konzernen, die während der Laufzeit des Abkommens getätigt wurden 20 Jahre lang weiterhin Gegenstand eines Anspruchs für ISDS-Klagen sein (siehe Abbildung). Ein von vielen Seiten vorgeschlagener Reformansatz ist eine Vereinbarung aller EU-Länder, diese „Verfallsklausel“ untereinander aufzuheben. Das würde die Ausbremsung der Energiewende entschärfen und die Zahlung exorbitanter Entschädigungszahlungen vermindern.