17.05.2024
Kurspeilungen der Energiewende Teil 6: Alt-neue Materialien
Eine Skizze von Götz Warnke
Ein Skipper auf dem Meer muss sich bei heraufziehendem Unwetter überlegen, welchen Kurs er anlegen bzw. wohin er sein Boot steuern will. Der Skipper muss sich also verschiedene Kurse überlegen, auf denen er unter den gegebenen Umständen einen sicheren Platz zum Festmachen erreicht. Wie und mit welchen Manövern er diesen Platz dann auf den letzten paar Hektometern erreicht, ergibt sich dann aus der aktuellen Situation. Wichtig ist, den richtigen Kurs zu wählen und sichere Gewässer zu erreichen.
Das gilt auch für die Energiewende. Denn das heraufziehende Unwetter ist die Klimakrise mit immer häufiger und zum Teil auch stärker auftretenden Extremwetter-Ereignissen. Ihr gilt es möglichst weitgehend zu entkommen, die richtigen Kurse anzulegen. Dabei geht es um die richtige Richtung, um grundsätzliche Orientierungen, nicht um Einzelmaßnahmen, auch wenn die zu laufenden Kurse immer mit Einzelmaßnahmen als Beispiele unterlegt werden. Dabei erheben weder die hier abgesteckten Kurse/Grundorientierungen noch die einzelnen Manöver/Maßnahmen zu ihrer Umsetzung Anspruch auf Vollständigkeit.
Alt-neue Materialien
Dass wir Produkte neu denken müssen hinsichtlich ihres Recyclings, hinsichtlich der Segmentierung ihrer Bauteile und Materialien, haben wir bereits in Folge 5 „Recycling ausweiten“ gesehen. Doch damit darf das Denken nicht aufhören – wir müssen geistig noch einen Schritt weitergehen, nämlich zu den Materialien, die wir einsetzen bzw. in unseren Produkten verwenden. Dies hängt vor allem an den Wechselwirkungen einer ständig wachsenden Menschheit und einer zunehmend anwachsenden Klimakrise zusammen.
Je stärker die Menschheit und ihre Ansprüche an den Lebensstil wachsen, desto mehr natürliche, aber auch technische Ressourcen werden auf diesem begrenzten Planeten in Anspruch genommen. Die Überdehnung des Ressourcenverbrauchs befeuert die Klimakrise, welche wiederum andererseits die Verknappung wichtiger Ressourcen (Holz, Wasser etc.) befeuert und so Verunsicherung bei den Menschen erzeugt. Die Verunsicherung führt im reichen „globalen Norden“ zu mehr Konsumismus (Motto: „Lebe jetzt, wer weiß, was kommt.“), und im an Ressourcen reicheren, aber ärmeren „globalen Süden“ zu höheren Kinderzahlen, die dringend als Arbeitskräfte, Miternährer, „Altersversicherung“ etc. gebraucht werden. Beides tangiert wiederum den Materialbedarf, und es ist davon auszugehen, dass einzelne wichtige Stoffe, die national durchaus noch reichlich vorhanden sind, nicht mehr weltweit zur Verfügung stehen, sondern allenfalls noch bilateral als „Tauschgut“ eingesetzt werden. Was also tun?
Wir müssen ein Portfolio an Stoffen finden oder entwickeln, die verschiedene Kriterien mehr oder minder stark erfüllen: ausreichende regionale oder nationale Verfügbarkeit, natürlicher oder naturnaher Ursprung, kurze Verarbeitungsketten, niedriger Energie- und insbesondere Temperaturbedarf, geringe Konkurrenz zu anderen Faktoren (z.B. zur Nahrungssicherheit um Böden), nachhaltige Erzeugungsmöglichkeiten, moderate Kosten.
Einige Beispiele sollen das erläutern:
Angespültes Seegras: Die in großen Mengen abgerissenen Teile dieser Meerespflanze gelten als Müll, und müssen an Stränden meist maschinell entsorgt werden, da ihre Zersetzung zu Gestank und Ungeziefer führt. Bisher wurde dieses Seegras allenfalls kommunal getrocknet und verbrannt, wobei das in der Pflanzenfaser gespeicherte CO2 wieder freigesetzt wurde. Das angespülte Seegras lässt sich aber auch gereinigt als Dämmstoffe verwendet werden, die sich weder zersetzen noch brennbar sind. So können Mineralöl-Produkte ersetzt werden.
Für den Naturkautschuk der Autoreifen wird immer noch tropischer Regenwald gerodet. Eine Alternative ist der Naturkautschuk aus der Wurzel des „Unkrauts“ Löwenzahn.
Ein indirektes Produkt des Raubbaus am Regenwald ist unser Leder – immerhin werden unsere Rindern mit dem Soja der ausufernden brasilianischen Großfarmen gemästet. Da der Rindfleischverbrauch künftig aus Klimaschutzgründen zurück gehen muss und wird, könnte vermehrt das Leder aus Fischhäuten das aus Rindshaut ersetzen. Schon heute gibt es Taschen und Portemonnaies aus Lachsleder.
Eine extrem feste Naturfaser auf Holzbasis haben schwedische Materialwissenschaftler u m L. Daniel Söderberg am Hamburger Teilchenbeschleuniger DESY erzeugt. Dazu ließen sie Zellulose-Nanofasern (Fibrillen) in Wasser mit einem bestimmten ph-Wert durch durch ein System von Mikrokanälen strömen. Ergebnis: die Fasern sind zugfester als Stahl, den man für Stahlseile verwendet.
Das Hamburger Startup MycoLution baut Akustik-Absorber auf der Basis von Pilzen statt wie üblich aus erdölbasiertem Kunststoffen. Solche Pilzgeflechte eignen sich auch für den Hausbau – als schall- und Wärmeschutz.
Beim Serienbau von Sportbooten setzen die Werften beim Baumaterial vor allem auf Kunststoffe. Die Bremer Werft Greenboats hingegen setzt auf das Naturmaterial Flachs und Recyclingstoffe. Die wenig anspruchsvollen Flachs-Fasern werden übrigens auch zu Tragetextilien verarbeitet – das nennt sich dann Leinengewebe.
Diese Beispiele mögen genügen, zumal sie nur einen geringen Ausschnitt aus dem großen Bereich der Bioökonomie aufzeigen können. Künftig wird man diesen Bereich nicht nur intensivieren und diversifizieren, sondern vermehrt auch auf sicher verfügbare heimische Ressourcen ausrichten.
Teil 1: Temperaturen senken, Verbrennung beenden
Teil 2: Ein EE-System installieren
Teil 3: CO2-lastige Stoffe vermeiden
Teil 4: Geschwindigkeiten anpassen
Teil 9: Fußabdruck verschlanken