17.01.2020
Von der Energiewende zur Ressourcenwende: Teil 1 Grundlagen
Wenn die Menschheit den Kampf gegen die Klimakrise doch noch gewinnen will, bevor Milliarden von Menschen in einem Klimachaos zugrunde gehen, muss die weltweite Wende hin zu den Erneuerbaren Energien nochmals erheblich beschleunigt werden. Das gilt auch und besonders für die relativ reiche Bundesrepublik Deutschland, die sich immer noch im Glanze ihres alten Titels "Vorreiter der Energiewende" sonnt, eine Position, die die wetterwendisch-opportunistische Kanzlerin und ihre Vasallen längst verspielt haben.
Doch selbst bei aller Beschleunigung wird es nicht reichen, dem Ziel 100% Erneuerbare Energien schnellen Schrittes immer näher zu kommen. Denn wie beim Extrembergsteigen lauert das Scheitern und der Tod auf den letzten 1.000 „Höhenmetern“ – die ersten 6.500 bis zum Basislager sind für Experten fast nie das Problem. Für die Erneuerbaren Energien stellt es quasi die „Extremhöhe“ der Herausforderungen dar, dass unser fossiles Energiesystem aufs innigste mit vielen Erzeugnissen und Verfahren unseres fossilen Industriesystems verknüpft ist, und zwar auch in ganz zentralen Produkten. Dies ist kein neues Phänomen, sondern die Entwicklungen von Energienutzung und Produktherstellung verliefen im fossilen System vom Anfang der Industriellen Revolution an parallel:
- Ohne die Kohleförderung zu Heizzwecken in England keine Stahlherstellung und keine Dampfmaschine; ohne letztere keine Ausweitung der Kohleförderung.
- Ohne die Stadtgas-Erzeugung aus Kohle kein Teer als Abfall; ohne Teer keine Dachpappen/Teerpappen zum günstigen Bau großer Industriehallen.
- Ohne die kohlebefeuerten Ringöfen keine kontinuierliche Ziegelproduktion; ohne die kontinuierliche Ziegelproduktion keine neuen Groß- und Industriestädte mit ihren Arbeitervierteln; ohne diese kein Ausbau der Kohleförderung und keine Neuerrichtung von Ringöfen.
- Ohne den Bedarf an Erdöl – nicht nur für „Chinas Lampen“ - keine Ausweitung der Erdölförderung zur Mineralölindustrie; ohne Mineralölindustrie keine Schmierstoffe für die Industriemaschinen und keine petrochemische Industrie; ohne petrochemische Industrie keine billigen Kunststoffe und kein exzessives Wirtschaftswachstum.
Die Reihe der historischen Beispiele ließe sich fast beliebig verlängern. An dieser Stelle aber möge der Hinweis genügen, dass zwar einige der oben genannten Verknüpfungen sich historisch erledigt haben, die generelle Engmaschigkeit zwischen Industrie- und Produktionssystem jedoch weiterhin besteht – z.B. bei der petrochemischen Industrie (Öl), in großen Teilen der Metallverhüttung (Kohle) oder der Glasindustrie (Gas). Alle diese Industriezweige eint der Bedarf an hohen Temperaturen. Immerhin entfallen auf den Bereich industrielle Prozesswärme rund zwei Drittel des Energiebedarfs der Industrie. Etwa die Hälfte der Prozesswärme und damit der größte Teil dieser zwei Drittel, sind Temperaturen über 1.000°C. Dieser Temperaturbereich lässt sich bisher – von der nicht ausreichend vorhandenen Bioenergie einmal abgesehen – nur mit fossilen Brennstoffen, und damit höchst CO2-lastig bedienen.
Zwar gibt es immer wieder Konzepte, die CO2-Lasten der Industrie oder zumindest einiger ihrer Teile wie die Baustoffindustrie zu reduzieren, doch diese basieren im Wesentlichen auf einem „Weiter so“ des bisherigen Produkte-Systems bei Veränderung der Energiebasis hin zu erneuerbarem Strom, vor allem aber auch hin zu regenerativem Wasserstoff und Power-to-Fuels (PtG und PtF). Leider wird bei solchen Konzepten immer wieder übersehen, dass
- viele der in Aussicht genommenen Verfahren erst nach 2035 einsatzbereit sind und damit zu spät kommen, und
- wir wegen des schlechten Wirkungsgrades der entsprechenden PtX-Verfahren und der benötigten riesigen Mengen an PtG und PtF unser bisher fossiles, Ressourcen verschwendendes Wirtschaftssystem nicht mit Erneuerbaren Energien einfach fortsetzen können.
Schließlich lassen sich nicht alle unsere Äcker mit Agro-PV und Agro-CSP überdachen oder der Nordatlantik mit schwimmenden Windenergie-Plattformen bepflastern, so dass man – von einer Plattform zur nächsten hüpfend – trockenen Fußes bis nach New York käme!
In dieser Serie werden wir uns mit grundlegenden Pfaden der Transformation unseres Ressourcensystems beschäftigen, und zwar in weiteren drei Teilen: Einsparen+Effizienz, Recyclen+Reparieren, sowie Alte+Neue Werkstoffe. Zuvor ist es jedoch wichtig, zwei grundlegende Designregeln für die künftige Produktwelt zu betrachten, die sich durch alle dieser drei Teile ziehen werden:
1. Simplizität/Einfachheit
„Keep it simple“ ist zwar eine weit verbreitete Forderung, aber die Realität sieht genau anders aus: viele Produkte – vom Haushaltsgerät bis zur Werkzeugmaschine – werden zunehmend mit einer Vielzahl von Funktionen ausgestattet, die im Alltag kaum gebraucht werden. Für Ingenieure mag die Komplexität einen Beweis ihrer technischen Fähigkeiten darstellen und für Marketing-Menschen können die endlosen „Das-kann-unser-Produkt-auch-noch-Listen“ als Verkaufsargument dienen, aber für die Masse der Zeitgenossen behält die 80/20-Faustregel ihre Gültigkeit: 80 Prozent der Menschen nutzen nur 20 Prozent der Funktionen ihrer Geräte. Die Überkomplexheit der heutigen Technik kostet die Nutzer nicht nur Zeit in Form der Lektüre von endlosen Bedienungsanleitungen, sie erhöht auch den Ressourcenverbrauch schon bei der Herstellung, sie macht die Geräte/Maschinen/Produktionsabläufe fehleranfälliger, sie erschwert das Recycling und den Ersatz von Einzelteilen durch CO2-ärmere Teile während der Produktionszeit des jeweiligen Modells. Dabei ist vieles schlicht überflüssig.
Wir haben uns z.B. in den letzten Jahrzehnten daran gewöhnt, auch noch an die banalsten Geräte einen Elektromotor anzuflanschen oder sie auf andere Weise zu elektrifizieren. Das hat uns dann solche „Perlen ingenieurmäßigen Schaffens“ wie elektrische Pfeffermühlen mit Beleuchtung, elektronische Zeckenzangen, elektrische Bleistiftanspitzer, Ultraschall-Schmuck-Reiniger oder akkubetriebene, tragbare Schuhputz-Stationen beschert. Alle diese Geräte verschwenden Ressourcen ohne wirklichen (Zusatz-)Nutzen; sie sind teuer, und werden daher bei einem Defekt nicht dem Recycling zugeführt, sondern oft erst einmal auf dem Dachboden gelagert; da sie auch meist aus billigem Plastik bestehen und nur auf kurze Lebensdauer ausgerichtet sind, lohnt ein Einsatz CO2-armer Werkstoffe wie z.B. Holz hier nicht.
Simplizität steht jedoch nicht nur für Einfachheit, sondern auch gegen die übergroße Dimensionierung von Technik, gegen den „Größenwahn“. Ein Beispiel: Während die vielen dänischen Windkraftanlagen in den frühen 1980er Jahren 3 Rotorblätter vor dem Turm (LUV-Läufer) und eine Leistung von 30 bis 50 kW hatten, baute man in Deutschland den GROWIAN (Gross-Windkraftanlage): optimiert konstruiert von dem brillanten Aerodynamiker Prof. Ulrich Hütter und an der Grenze des technisch Machbaren gebaut, war die Maschine ein zweiblättriger Lee-Läufer (Blätter im Windschatten des Turms) mit einer damals gewaltigen Leistung von 3 MW und zugleich die größte Windkraftanlage ihrer Zeit. Doch während einige der kleinen dänischen Anlagen sich heute noch drehen, lief der GROWIAN, unterbrochen von endlosen Problemen und Stillstandszeiten, nur 1983 bis 1987, um dann abgewrackt, aber kaum vollständig recycelt zu werden. Er hält bis heute den Rekord als größter zweiblättriger Lee-Läufer der Welt – warum wohl!?!
Dass mangelnde Simplizität auch über die Ressourcenwende hinaus gravierende negative Auswirkungen haben kann, zeigen eine Vielzahl von gescheiterten Flugzeugprojekten, teilweise mit tödlichem Ausgang, wie die Heinkel He 177, der F 104 Starfighter etc., wovon die Boeing 737 MAX 8 aktuell einen traurigen Höhepunkt darstellt.
2. Segmentierung
Die Segmentierung als Begriff stammt von lateinischen Wort segmentum (= Abschnitt). Unter Segmentierung versteht man die materielle Einteilung von Produkten nach unterschiedlichen Materialien, Funktionen und Abnutzungshäufigkeiten, und zwar in der Form, dass sich die unterschiedlichen Segmente problemlos voneinander reversibel trennen lassen.
In den letzten Jahrzehnten zeichnet sich im Bereich der Technik ein eher gegenläufiger Trend ab: die Zusammenfassung von verschiedenen Funktionen in Baugruppen hat dazu geführt, dass bei dem Defekt an nur einer Funktion der Baugruppe gleich die gesamte Baugruppe ausgetauscht werden muss. So kann eine defekte Lampe in einer Scheinwerfer-Einheit eines Autos dazu führen, dass die ganze Scheinwerfer-Einheit ausgetauscht werden muss, obgleich Verkabelung, Lampenhalterung, Reflektor, Schutzglas etc. völlig unbeschadet sind. Da nicht alle Teile vollständig recycelt werden, ist dies nicht nur eine Energie- sondern auch eine Ressourcenverschwendung. Ähnliche Phänomene finden wir z.B. bei Handys, wo meist zuerst der Akku seinen Dienst versagt. Da dieser aber oft mit dem Gehäuse verklebt ist, und sich so von Laien kaum reparieren lässt, wird gleich das ganze Handy unbenutzbar. Das mag für die Hersteller zwar sinnvoll sein, weil sich bei Neukauf oder größeren Austauschteilen auch höhere Preise rechtfertigen lassen; für die Ressourcen- und die CO2-Bilanz ist diese verbreitete Methode eine Katastrophe. Dass es technisch auch anders geht, zeigen die modularen Smartphones Fairphone 2 und Fairphone 3.
Dass die Idee der Segmentierung nicht neu ist, zeigt der historische Blick auf einen ganz anderen Bereich, nämlich auf die Kleidung: dort gab es abnehmbare Hemd-Kragen, Ärmelschoner, Westen und Galoschen. Alle diese Teile dienten dazu, besonders leicht verschmutzende Teile der Kleidung abnehmen und separat reinigen zu können, ohne gleich das ganze, große Kleidungsstück in die Wäsche geben zu müssen. Heute macht uns die Waschmaschine das Leben leicht und gedankenlos. Denn wie wir unsere Kleidung in den vielen Waschgängen zerreiben, sehen wir allenfalls noch im Fusselsieb des Umlufttrockners.
Simplizität und Segmentierung in Kombination
Abschließend noch traditionelles, aber ebenso aktuelles Beispiel für eine ebenso gelungene Segmentierung wie Simplizität: die Weck-Gläser für das Einkochen von Lebensmitteln. [Nein, ich bekomme für die Erwähnung kein Geld bzw. keine Vergünstigungen!] Jedes Glas besteht aus einem Glaskörper, einem Glasdeckel, einem Gummi-Dichtungsring, und zwei Metall-Verschlussklammern. Jedes dieser Teile erfüllt genau eine Funktion, ist ggf. problemlos austausch- und nachkaufbar. Bei den Allerwelts-Marmeladengläsern reicht eine Beschädigung des Metall-Deckels beim Öffnen oder die Abnutzung einer eingeklebten Gummierung, und das Glas ist wertlos; bei den verkauften Gläsern mit einem Stahlbügel fest am Deckel reicht ein Bruch des Bügels oder ein Riss im Deckel, und das gesamte Produkt ist perdue. Beim Weck-System muss im Falle eines defekten Gummi-Dichtungsrings nur dieser ausgetauscht werden; der Rest des Systems bleibt – in seiner generellen Funktion unangefochten – erhalten. Sollte es einmal Dichtungsringe aus anderen Materialien geben oder sich die Metall-Verschlussklammern durch entsprechende Holz-Klammern ersetzen lassen, so kann das sukzessiv geschehen, während die anderen Teile des Systems ihren Wert und ihre Funktion behalten.
Für eine Ressourcenwende muss dieses Alltagsbeispiel nach Möglichkeit auf alle Produkte, Werkstoffe und Verfahren übertragen werden – einfach, kleinteilig, wirkungsvoll.
Götz Warnke
Teile der Serie Von der Energiewende zur Ressourcenwende
Teil 1 Grundlagen
Teil 2 Einsparen+Effizienz
Teil 3 Recyclen+Reparieren
Teil 4 Alte und neue Materialien