16.10.2020
Können wir 1,5 Grad? Studie fundiert Forderungen von Fridays for Future
Eine Betrachtung von Jörg Sutter
Schon wieder eine Studie zur Erreichbarkeit der Klimaziele? Das kann man skeptisch fragen, wenn man beginnt, die neuen 113 Seiten des Wuppertal-Instituts zu lesen. Doch aufgemerkt: Interessant ist schon der Auftraggeber der Studie: die Fridays for Future-Bewegung.
Nachdem FFF schon seit über einem Jahr mit vielerlei Aktionen und Demonstrationen die Einhaltung der Pariser Klimaziele fordert, hat es nun beim Wuppertal-Institut einen Bericht angefordert, der eine klare Ansage macht und die Forderungen untermauert: Zielsetzung ist eine Drosselung des Temperaturanstieges auf 1,5 Grad gemäß dem Pariser Klimaabkommen. Nach Berechnungen des IPCC dürfen dann ab 2018 weltweit nur noch 580 Gigatonnen (Gt) CO2 emittiert werden, das bedeutet für Deutschland ein Restbudget von 4,2 Gigatonnen ab 2020. Die jetzt vorgelegte Studie will nun Denkanstöße liefern, ob und wie die dafür notwendigen drastischen Umstellungen zur Erreichung der CO2-Neutralität im Jahr 2035 erfolgen können.
Die Fridays for Future-Bewegung bekräftigt damit ihren Vorwurf, dass die aktuelle Klimapolitik der Bundesregierung zur Erreichung der Paris-Ziele bei weitem nicht ausreicht. Und sie betont: Selbst ein lineares Abfallen der Emissionen in den kommenden Jahren reicht nicht, es muss sehr schnell eine sehr große Reduzierung stattfinden, um noch umsteuern zu können.
„Für die für den Klimaschutz zentralen Sektoren der Energiewirtschaft, der Industrie, des Verkehrs und der Gebäudewärme stellen sich große Herausforderungen, um bis 2035 zumindest eine weitgehende Treibhausgasneutralität zu erreichen“, so die Autoren der Studie. Die Landwirtschaft wurde nicht betrachtet. Die Umsetzung bis 2035 bedeutet dabei eine doppelt so hohe Umstellungsgeschwindigkeit gegenüber Szenarien, die sich dafür bis zum Jahr 2050 Zeit lassen.
Bereitschaft muss vorhanden sein
Erreichbar ist alles nur, wenn entscheidend auch gesellschaftlich die Bereitschaft zu einer großen Transformation vorhanden ist. „Sind wir bereit, mit gewohnten Routinen zu brechen und unser Verkehrsverhalten deutlich zu verändern? Sind wir in der Lage, die Veränderungen fair und auch für ökonomisch benachteiligte Mitglieder der Gesellschaft attraktiv zu organisieren?“ fragen die Autoren der Studie. Ihnen ist wichtig, dass der Umbau sozial-ökologisch gelingt und Maßnahmen wie eine Erhöhung des CO2-Preises mit einer progressiven Verteilungswirkung (z.B. Verbilligung ÖPNV, Absenkung Stromsteuer) verbunden werden.
Der Ausbau der Erneuerbaren Energien steht im Mittelpunkt der Betrachtung der Bereiches Energiewirtschaft. Ein sinnvoller EE-Ausbau wird in der Studie mit 25 bis 30 GW pro Jahr für Wind und Photovoltaik zusammen gesehen. Weniger würde bedeuten, mehr grünen Wasserstoff zu importieren. Doch ist unklar, ob die notwendigen Mengen in den kommenden Jahren dafür überhaupt bereitstehen werden. Der Aufbau von Stromerzeugung und Elektrolyse im Inland ist also die bessere Option.
„[Es] darf keine weitere Zeit verloren werden, internationale Energie-Partnerschaften auszubauen, während es gleichzeitig sinnvoll erscheint, einen maximal (nachhaltig) möglichen inländischen Ausbau Erneuerbarer Energien anzustreben“, so die Ersteller der Studie. Auch konkrete Ideen, den Ausbau voranzubringen, finden sich im Papier: Bei der Windenergie ist es die gesteigerte Beteiligung von Anwohnern und Kommunen am Anlagenbetrieb, bei der PV eine Baupflicht, die schlagartig für mehr Module bei Neubauten sorgen könnte. Und bei den Treibstoffen könnte schnell eine Beimischungsquote eingeführt werden, die sukzessive in den kommenden Jahren erhöht werden kann. Und die Forderung an die Industrie: Schon heute müssten Neuinstallationen von Industrieanlagen treibhausgasneutral sein, denn aufgrund der langen Nutzungsdauer wäre sonst das Ziel in 2035 nicht erreichbar. Beim Verkehr ist es zentral, Verkehr zu reduzieren, den verbleibenden Mobilitätsbedarf soweit wie möglich auf den Umweltverbund aus Fuß- und Radverkehr sowie öffentlichem Verkehr zu verlagern und die Effizienz der Verkehrsmittel deutlich zu verbessern. Daneben muss die Fahrzeugflotte bei kleinen Fahrzeugen möglichst schnell vollständig elektrifiziert werden, im Schwerlastverkehr werden Wasserstoff/Brennstoffzelle und synthetische Kraftstoffe als Alternative angesehen.
Bei der Wärme zeigt sich die Notwendigkeit eines ambitionierten Vorgehens: 4 Prozent der Gebäude (statt dem aktuellen politischen Ziels von 2 Prozent) müssen jährlich saniert werden, gleichzeitig Heizungen durch Wärmepumpen, Solarkollektoren und grüne Nah- und Fernwärme ersetzt werden.
Erste Reaktionen
Mit Skepsis hat Andreas Kuhlmann, Geschäftsführer der dena, vor einigen Tagen die Veröffentlichung kommentiert: Die Studie weise zurecht darauf hin, dass die Klimaziele von Paris mit den derzeitigen Aktivitäten nicht erreicht werden, aber: „Bedauerlicherweise fehlt es den darin beschriebenen Eckpunkten an nachvollziehbaren Machbarkeitspfaden“. Kuhlmann nennt als Beispiele die sofortige Erhöhung der Sanierungsquote auf 4 Prozent oder den enormen Import von grünem Wasserstoff bis 2035. Er plädiert für eine „Erdung“ der Diskussion und verweist auf die Arbeiten seines Hauses zur Leitstudie „Aufbruch Klimaneutralität“. Doch wie in der vorliegenden Studie schon zu Beginn zu lesen ist: Es wird darin eben kein konkretes Szenario entwickelt oder konkrete Handlungen empfohlen - das ist und bleibt eine gesellschaftliche Aufgabe.
Der Bundesverband Erneuerbare Energien (BEE) hat anlässlich der Veröffentlichung der Studie betont, dass zur Sicherstellung eines klimaneutralen Energiesystems bis zum Jahr 2035 ein Ausbau von Wind- und Solarenergie von zusammen mindestens 25 bis 30 GW pro Jahr sinnvoll ist. Damit seien die aktuellen Ziele der Bundesregierung mindestens um einen Faktor 2,5 zu langsam, im Durchschnitt der Jahre 2018 und 2019 lag der Ausbau mit 6,3 GW pro Jahr sogar nur bei einem Viertel des mindestens notwendigen Wertes, so der BEE.
Kommen jetzt konkretere Forderungen?
Und was bleibt? Gut möglich, dass durch die Studie jetzt die Forderungen von fff konkreter werden: Nicht mehr das abstrakte „wir fordern die Einhaltung von Paris“, sondern das konkretere „wir brauchen jährlich 25 bis 30 GW Zubau bei PV und Wind“ könnte zukünftig an die Politik adressiert werden. Der Protest wird damit sicher noch unbequemer, denn bisher konnte die Politik sich hinter „ja, wir stehen doch zu Paris“ zurückziehen. Mit Blick auf die vorliegende Studie reicht auf die Frage “Warum steht in der EEG-Novelle nur ein PV-Zubau von 5 GW pro Jahr?“ diese Antwort nicht mehr.
Link zur Studie:
https://fridaysforfuture.de/studie/schluesselergebnisse/