16.02.2024
Moment der Entscheidung
In einer spektakulären Wanderung durch die Erdgeschichte stellt der renommierte Klimaforscher Michael E. Mann unmissverständlich klar, wie fragil der Moment ist, in dem die Menschheit sich gerade befindet – und dass es sich lohnt, um die Zukunft zu kämpfen. Michael E. Mann beschreibt in dem Buch wie wir mit Lehren aus der Erdgeschichte die Klimakrise überleben können.
Auszug aus dem Buch
Wir leben auf einem Planeten, der nicht besser sein könnte. Er hat Wasser, eine sauerstoffreiche Atmosphäre und eine Ozonschicht, die das Leben vor schädlichen ultravioletten Strahlen schützt. Er ist weder zu kalt, noch zu heiß, alles scheint genau richtig für das Leben. Trotz unserer andauernden Suche – die dank des kürzlich in Betrieb genommenen James-Webb-Teleskops nun fast 14 Milliarden Lichtjahre in den Weltraum reicht – haben wir bisher keinen anderen Planeten im Universum mit solch günstigen Bedingungen gefunden. Es ist fast so, als ob dieser Planet, die Erde, für uns geschaffen wäre. Und dennoch war sie es ursprünglich nicht.
Die Erde hat in der überwiegenden Zeit ihrer 4,54 Milliarden Jahre gezeigt, dass sie gut ohne Menschen auskommt. Die ersten Hominiden – die Urmenschen – tauchten vor etwas mehr als zwei Millionen Jahren auf. Erst vor 200.000 Jahren hat der moderne Mensch die Erde betreten. Und menschliche Zivilisationen gibt es gerade mal knapp seit 6.000 Jahren, das sind 0,0001 Prozent der Erdgeschichte – ein flüchtiger Augenblick in der geologischen Zeit.
Was hat uns diesen Zeitraum einer den Menschen freundlich gesonnenen Erde eröffnet, der zugleich so labil ist? Ironischerweise ist es genau das, was uns jetzt bedroht: der Klimawandel. Ein Asteroideneinschlag vor 65 Millionen Jahren, der einen globalen Staubsturm auslöste, kühlte den Planeten ab, tötete die Dinosaurier und ebnete den Weg für unsere Vorfahren – winzige, spitzmausgroße Ur-Säugetiere, die umher huschten und sich vor ihren saurierartigen Fressfeinden versteckten. Nun, ohne die Dinosaurier, konnten diese Tiere aus dem Schatten heraustreten, neue Nischen besetzen und sich über Generationen an diese anpassen, um Primaten, Affen und schließlich uns hervorzubringen. Ein Ereignis wie der Asteroideneinschlag wäre für die moderne menschliche Zivilisation verheerend, wenn es heute eintreten würde. Doch unsere wirkliche und akute Bedrohung geht von der Verbrennung fossiler Brennstoffe und der Luftverschmutzung durch Kohlenstoffdioxid (CO2) aus. Eine Erwärmung der Erde, und nicht deren Abkühlung, ist unser heutiges Problem.
Das Klima hat uns von Anfang an geprägt und geleitet. Die Austrocknung der Tropen im Zuge der Abkühlung des Planeten während des Pleistozäns vor 2,5 Millionen Jahren schuf eine Nische für frühe Hominiden, die Beute jagen konnten, als die Wälder in den afrikanischen Tropen den Savannen wichen. Doch heute drohen in vielen Regionen Dürre und Flächenbrände. Die plötzliche Abkühlung im Abbildung Nordatlantik vor 13.000 Jahren, die als Jüngere Dryaszeit bekannt ist und gerade eintrat, als die Erde die letzte Eiszeit hinter sich ließ, war eine Herausforderung für die Jäger und Sammler, und trieb die Entwicklung der Landwirtschaft im sogenannten fruchtbaren Halbmond voran [Winterregengebiet am nördlichen Rand der Syrischen Wüste, gilt als Ursprungsgebiet von Ackerbau und Viehzucht, Anm. d. Ü.]. Die der mittelalterlichen Warmzeit folgende kleine Eiszeit im 16. bis 19. Jahrhundert führte später in weiten Teilen Europas zu Hungersnöten und Seuchen und trug etwa zum Zusammenbruch der grönländischen Siedlungen im Norden bei. Eine ähnliche Abkühlung des Nordatlantiks zeichnet sich heute ab, da das Grönlandeis schmilzt, das Wasser des Nordatlantiks auffrischt und das System der nordwärts gerichteten Meeresströmungen unterbricht. Dies könnte die Fischpopulationen bedrohen und damit unsere Möglichkeiten einschränken, einen hungrigen Planeten zu ernähren. Für einige, wie die Niederländer, war die kleine Eiszeit jedoch ein Segen, da sie die stärkeren Winde nutzen konnten, um ihre Seereisen zu verkürzen. Die niederländischen West- und Ostindien-Kompanien wurden zu den dominierenden Seehandelsgesellschaften und besaßen fast ein Monopol auf die europäischen Schifffahrtsrouten nach Süd- und Nordamerika, Afrika, Australien und Neuseeland. Sie schienen die Welt zu beherrschen. Eine Zeit lang. So wie es die Dinosaurier taten – eine Zeit lang.
Wie wir sehen, ist die Geschichte des menschlichen Lebens auf der Erde eine komplizierte. Klimaschwankungen haben zuweilen neue Nischen geschaffen, die wir Menschen oder unsere Vorfahren zu nutzen wussten. Sie sorgten auch für Herausforderungen, die verheerende Folgen hatten und dann zu Innovationen führten. Doch die Bedingungen, welche es den Menschen ermöglichen, auf der Erde zu leben, sind unglaublich fragil, und es gibt nur einen relativ engen Bereich an Klimavariabilität, innerhalb dessen die menschliche Zivilisation lebensfähig bleibt. Heute versorgt unsere riesige gesellschaftliche Infrastruktur mehr als acht Milliarden Menschen. Diese Größenordnung übersteigt die natürliche »Tragfähigkeit« der Erde, also die Ressourcengrenzen, die unser Planet ohne die menschliche Technologie bereitstellen könnte. Zudem ist unsere Infrastruktur nur so lange stabil, wie die Bedingungen, die während ihrer Entwicklung herrschten, unverändert bleiben.
Die CO2-Konzentration in der Atmosphäre ist heute so hoch wie noch nie seit der Zeit, in der frühe Hominiden in den afrikanischen Savannen auf die Jagd gingen. Sie liegt jetzt schon außerhalb des Bereichs, in dem unsere Zivilisation entstanden ist. Wenn wir weiterhin fossile Brennstoffe verbrennen, ist es wahrscheinlich, dass sich der Planet über die Grenze unserer kollektiven Anpassungsfähigkeit hinaus erwärmen wird. Wie nah sind wir an dieser Grenze? Auf den folgenden Seiten versuche ich, diese Frage zu beantworten.
Wir werden uns ansehen, wie wir in diese Lage gekommen sind. Und wir werden das unglaubliche Geschenk betrachten, das uns der Planet auf unserem Weg gemacht hat: Ein stabiles Klima, damit wir Menschen nicht nur überleben, sondern uns entwickeln können. Und wir werden erfahren, wie sehr wir unsere Zivilisation gefährden, wenn wir unseren derzeitigen Weg fortsetzen. Außerdem werden wir uns mit der Paläoklimatologie befassen, der Erforschung der klimatischen Verhältnisse der erdgeschichtlichen Vergangenheit. Daraus lassen sich entscheidende Lehren für die größte Herausforderung ziehen, der wir uns als Spezies stellen müssen. Denn, wie Sie zweifellos bereits wissen, stehen wir vor einer Klimakrise. Auf den folgenden Seiten werde ich Sie mit dem Wissen ausstatten, das Sie brauchen, um das Ausmaß der sich anbahnenden Bedrohung zu erkennen, und Sie gleichzeitig ermutigen, zu handeln, bevor es wirklich zu spät ist. Nur wenn wir die Klimaveränderungen der Vergangenheit verstehen und wissen, was sie uns über die Umstände sagen, unter denen wir gedeihen konnten, können wir zwei scheinbar widersprüchliche Realitäten verstehen. Auf der einen Seite ist da die absolute Zerbrechlichkeit dieses Augenblicks (siehe Original-Buchtitel »Our Fragile Moment«), die uns quasi täglich durch jeden verheerenden Flächenbrand, jeden »Jahrhundert-Hurrikan« oder jeden Tag mit Temperaturen von über 43 °C Grad Celsius vor Augen geführt wird. All das sind Anzeichen dafür, dass wir in den Abgrund eines unbewohnbaren Planeten zu schlittern drohen. Andererseits zeigt das Studium der Erdgeschichte, dass das Klima bis zu einem gewissen Grad resilient ist. Der Klimawandel ist eine Krise, jedoch eine lösbare Krise...
Moment der Entscheidung
Wie wir mit Lehren aus der Erdgeschichte die Klimakrise überleben können
Im Original: Our Fragile Moment (von Michael E. Mann)
In der deutschen Übersetzung von Matthias Hüttmann und Tatiana Abarzúa
Mit einem Vorwort des Meteorologen Özden Terli.
ISBN 978-3-98726-069-8, 1. Auflage 2024, 384 Seiten, D: 34,00 €
oekom-Verlag, München
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Leseprobe zum neugierig werden (pdf)
In Kürze auch elektronisch verfügbar (beide Versionen: D: 26,99 €)
als E-PDF: ISBN: 978-3-98726-299-9
als E-PUB: ISBN: 978-3-98726-308-8
Weitergehende Infos zu dem Buch finden Sie hier und hier.