15.09.2023
Wo die Elektronen in Zukunft fließen werden
Eine Analyse von Jörg Sutter
Die Bundesnetzagentur hat zum 8. September den Entwurf des neuen Netzentwicklungsplans (NEP) zum Ausbau des Stromnetzes bis 2027 bzw. 2045 veröffentlicht. In einem Konsultationsverfahren werden nun bis November Anregungen für Änderungen und Ergänzungen entgegengenommen, um danach den Plan festzuschreiben. Der Plan soll die Grundlage des weiteren Ausbaus der Stromnetze in Deutschland sein.
Einschränkung: Hoch- und Höchstspannungsnetz
Die ganzen Diskussionen um den Ausbau des Mittel- und Niederspannungsnetzes ist nicht Bestandteil des Planes. Es geht hier um das „große Ganze“, also um die Haupttrassen auf Hoch- und Höchstspannungsebene, für die die vier Übertragungsnetzbetreiber zuständig sind. Ein Ausbau braucht hier besonders viel Vorlauf, die Planungs- und Umsetzungsphasen sind lang. Und auch eine Diskussion der angesetzten Grundlagen - von Ausbautempo bis Wasserstoffnutzung - verbietet sich hier, weil die Eckdaten in einem andern Verwaltungsakt festgelegt werden. Der NEP baut auf diesen juristisch fixiert auf.
Ziel: Ein „Klimaneutralitätsnetz“
Der Präsident der Bundesnetzagentur, Klaus Müller, beschreibt die Besonderheit dieses Netzentwicklungsplanes wie folgt: "Dieser Netzentwicklungsplan zeigt erstmals, welches Stromnetz wir brauchen, um die Energiewende zu vollenden, wir prüfen sehr genau, welche neuen Leitungen erforderlich sind. Klar ist aber jetzt schon, dass wir bis 2045 einen erheblichen zusätzlichen Ausbau des Stromnetzes brauchen werden."
Dass das Stromnetz weiter ausgebaut werden muss, ist nun kein Wunder, dass hier nun aber die Vollendung der Energiewende in Sicht ist, erstaunt schon ein wenig. Ja, es ist noch ein langer Weg, bis 2045 sind es noch 22 Jahre. Und trotzdem: Hier wird eine wichtige Entscheidung nicht vorweggenommen, die einen Grundsatzstreit der Energiewende weiter begleitet: Werden wir „all electric“ oder wird unsere Energieversorgung auch zukünftig noch ein Standbein in Gas oder Wasserstoff haben? Hier gibt der Netzentwicklungsplan einige Antworten: Es wird der Stromnetzausbau auch unter dem Aspekt der Erzeugung von „grünen Gasen“ betrachtet. Auch sind Wasserstoffkraftwerke für die Netzstabilität und Versorgungssicherheit berücksichtigt. Die Quote der inländischen Wasserstofferzeugung wird mit 50% angesetzt.
Von den Erstellern des NEP wird unter anderem auch eine stärkere Verzahnung von Strom, Gas und Wasserstoff gefordert. „Aufgrund der hohen Komplexität der Netzplanungsprozesse“ – so die Netzbetreiber – wird die jeweilige Netzplanung aber auch zukünftig weiter getrennt erfolgen.
Der Brutto-Stromverbrauch wird – je nach Szenario – mit 1.079 bis 1.303 TWh angesetzt (gegenüber 533 TWh als Referenz 2020/2021). Auch spannend: Die Leistung der grenzüberschreitenden Kapazitäten wird nicht erhöht, auch im Szenario für 2045 bleibt die bisher angesetzte Leistung von rund 50 GW für den europäischen Austausch bestehen. In allen Szenarien wird Deutschland aber ein Netto-Stromimporteur in 2045 sein.
Die Sektorenkopplung wird mit folgenden Werten für das Jahr 2045 angesetzt: Elektrolyse mit 50 bis 80 GW (auch wieder je nach angesetztem Szenario), Power-to-Heat 14,9 bis 27 GW, Elektromobilität mit 34,8 bis 37,3 Mio. Fahrzeugen (zum Vergleich: zum 1.1.2023 gab es in Deutschland 48,8 Mio. PKW). Ein weitere Szenarienansatz: Der Ausbau von Speichern wird massiv; angesetzt sind hier für PV-Batteriespeicher 97,7 bis 113 GW und für Großspeicher 43,3 bis 54,5 GW. Die Anzahl der Wärmepumpen wird in allen Szenarien für 2045 mit 16,3 Mio. angesetzt.
Das Verfahren
Der NEP entsteht in einer Art Ping-Pong: Zuerst kommen die Übertragungsnetzbetreiber und stellen ihre Vorstellung des Netzausbaus vor, beschreiben einzelne Maßnahmen und begründen diese auch detailliert. Die Bundesnetzagentur als übergeordnete Behörde prüft diesen Plan und schaut sich auch die Begründungen an. Immerhin sind die Netzbetreiber ja Monopolisten, durch die Plankontrolle sollen vor allem unnötige Ausbauten auf Kosten der Stromkunden vermieden werden. Jetzt wird der geprüfte Plan veröffentlicht und auch der Öffentlichkeit transparent gemacht. Bis November können dazu Kommentare abgegeben werden, dann wird noch ein eigener Prozess zur Prüfung und Bewertung der Umweltauswirkungen gestartet. Nach der Verabschiedung des NEP geht es dann an die Vorbereitung der Umsetzung, die ja teils viele Jahre bis Jahrzehnte in Anspruch nimmt, bis tatsächlich Strom durch die neu aufgebauten Leitungen fließen kann.
… und konkret?
Konkret enthält der NEP rund 6.200 neue Trassenkilometer an Stromleitungen, darunter auch fünf neue Gleichstromverbindungen. Damit wird der Ausbau der derzeit in Bau- und Genehmigung befindlichen großen Nord-Süd-Trassen fortgesetzt. Des Weiteren kommen 6.000 Trassenkilometer hinzu, die als Verstärkung bestehender Leitungen angesetzt sind. Das kann durch vollständigen Ersatz (Abriss von Freileitungen und Neubau leistungsstärkerer Verbindungen) oder durch ergänzende „Beseilung“ der Trassen erfolgen. Oftmals stehen Strommasten, bei denen nicht alle möglichen Punkte der Masten mit Leistungen („Seilen“) belegt sind. Hier kann ohne Neubau von Masten weitere Leistungskapazität zur Verfügung gestellt werden. Auch der Ersatz von „dünnen“ durch „dickere“ Leitungen ist möglich.
Und auch ein weiteres Detail wird baulich einen massiven Aufwand bedeuten: Um den Ausbau der Offshore-Windenergie gemäß dem verabschiedeten Windenergie-auf-See-Gesetz zu erreichen, sind im NEP insgesamt 34 neue Übergabestationen für Windstrom in die Stromnetze vorgesehen.
Auch klar wird, auch wenn dieser Aspekt im NEP recht kurz dargestellt wird: Das wird Geld kosten, eine Menge Geld. Bis 2045 ist eine Kostenschätzung von 156 Mrd. Euro für die aufgelisteten Maßnahmen geschätzt. Und da die Kosten des Netzausbaus in jeder Stromrechnung unter „StromNEV-Umlage“ und „Netznutzungsentgelt“ enthalten sind, kann sich jeder ausmalen, was das für die persönliche Stromrechnung bedeuten wird. Als einfacher Dreisatz: bei 84,4 Mio. Einwohnern im Land bedeutet das Kosten bis 2045 von rund 1.850 Euro „pro Nase“.
Der konkrete Plan und ein Anhang dazu finden sich hier:
https://data.netzausbau.de/2037-2023/NEP/NEP_2037_2045_V2023_2_Entwurf_Teil1.pdf
https://data.netzausbau.de/2037-2023/NEP/NEP_2037_2045_V2023_2_Entwurf_Teil2.pdf
Zum Studium der Unterlagen sollten Interessiert jedoch ein wenig Zeit mitbringen: Der NEP hat einen Umfang von 267 Seiten, der Anhang (zweite pdf-Datei) ist über 800 Seiten stark und enthält detaillierte Angaben zu allen einzelnen Maßnahmen, wobei hier „nur“ die eigentlichen Verbindungen genannt sind. Die konkrete Trassenplanung, die dann oftmals vor Ort für große Diskussionen sorgt, ist im NEP nicht enthalten.