15.07.2022
Verfassungsentwurf für Chile: Rechte der Natur verankert
Ein Bericht von Tatiana Abarzúa
Rund 360 Tage lang arbeitete der chilenische Verfassungskonvent an einer neuen Verfassung für das Land. In wenigen Wochen werden die Chilen:innen über diesen Vorschlag für eine neue Verfassung abstimmen. Es ist ein historischer konstituierender Prozess, der durch die Proteste der „sozialen Explosion“ (estallido social) im Oktober 2019 eingeleitet wurde. Und das Ergebnis ist offen. Genügend Gründe um das Thema genauer zu beleuchten.
Vergangene Woche, am 4. Juli, stellte der Verfassungskonvent den ausgearbeiteten Entwurf der Öffentlichkeit vor. María Elisa Quinteros, Vizepräsidentin des Verfassungskonvents, überreichte dem chilenischen Präsident Gabriel Boric offiziell ein Exemplar des Entwurfs, die „Vorgeschlagene politische Verfassung der Republik Chile“. Der Gesetzestext umfasst 388 Artikel auf 178 Seiten. Zum Ende der Zeremonie unterzeichneten Generalsekretär Giorgio Jackson, Innenministerin Izkia Siches und Boric das Dekret für die Einberufung der Volksabstimmung für Sonntag, den 4. September. An dem Tag werden die Chilen:innen für „Zustimmung“ (apruebo) oder „Ablehnung“ (rechazo) des Verfassungsvorschlags abstimmen. Letzteres würde bedeuten, dass die bisherige Verfassung, die aus der Diktaturzeit von Augusto Pinochet stammt, gültig bliebe.
Nun haben alle Chilen:innen knapp zwei Monate Zeit, den Verfassungsentwurf zu studieren. Bei dem Referendum besteht Wahlpflicht für alle im Land lebenden Chilen:innen, die im Wählerverzeichnis eingetragen sind. 16- und 17-Jährige sowie Chilen:innen mit Wohnsitz im Ausland können auch abstimmen, sind jedoch nicht dazu verpflichtet.
Vom estallido social zum Referendum
In deutschen Medien wird selten über Chile berichtet. Eine Ausnahme war die Zeit der Proteste, die im Oktober 2019 begann. Diese richteten sich gegen die soziale Ungleichheit im Land und wurden durch eine große Empörung über eine Fahrpreiserhöhung von U-Bahntickets ausgelöst, und gingen mit heftigen staatlichen Repressionen einher. Eine zentrale Forderung bei den sozialen Protesten war eine Verfassungsänderung. Im Oktober 2020, ein Jahr nach dem estallido social, stimmten mehr als 78 Prozent der Chilen:innen für eine Änderung der Verfassung. Im Mai 2021 wählten die Chilen:innen aus mehr als 1.300 Kandidaten die 155 Delegierten der verfassunggebenden Versammlung. Der Abschluss dieses konstituierenden Prozesses wird das Referendum im September sein.
Eine fortschrittliche Verfassungsreform
Im ersten Artikel des Verfassungsentwurfs steht, dass Chile „ein sozialer und demokratischer Rechtsstaat“ ist. Außerdem soll dieser Staat künftig „multinational, interkulturell, regional und ökologisch“ sein und somit auch die Rechte von Indigenen verankern. Zudem ist er „als solidarische Republik konstituiert“ mit einer Demokratie, die „inklusiv und gleichberechtigt“ ist.
Anerkannt werden „Würde, Freiheit, die materielle Gleichheit der Menschen und ihre unauflösliche Beziehung zur Natur als intrinsische und unveräußerliche Werte“. Grundlage des Staates soll der Schutz und die Gewährleistung der individuellen und kollektiven Menschenrechte sein. Diese sollen seine gesamte Tätigkeit leiten.
Bisher, auf Grundlage der alten Verfassung, haben private Dienstleistungen vor allen öffentlichen Vorrang. „Nur wenn kein privates Unternehmen Dienstleistungen anbietet, darf die öffentliche Hand überhaupt aktiv werden“, beschreibt die Hilfs- und Menschenrechtsorganisation medico international die Situation. Die Privatisierung alles Öffentlichen von der Bildung über die Rente bis zum Gesundheitswesen habe deshalb quasi Verfassungsrang, so medico. Und das würde sich mit Annahme des Verfassungsentwurfs ändern. Denn dieser setze „an die Stelle des Verfassungsranges des Neoliberalismus und seines brutalen Staates neue Institutionen, die der Umwelt, den Menschenrechten, dem Feminismus und dem Plurinationalen verpflichtet sind“.
Die Natur hat Rechte
Die bisherige Verfassung Chiles schreibt Privatpersonen, die Wasserrechte besitzen, das Eigentum an diesen zu (Artikel 19 der Verfassung von 1980). Deshalb haben Umweltschützer:innen wie der Wasseraktivist – und Preisträger des Nürnberger Menschenrechtspreis – Rodrigo Mundaca immer wieder darauf hingewiesen, dass die chilenische Bevölkerung ihr Recht auf Wasser nur dann wiedererlangen könne, wenn die Verfassung entsprechend geändert werde. Auch 4.000 Kilometer Küste sind in privater Hand, wie medico im oben genannten Blogbeitrag berichtet.
Soziale Bewegungen, die am Verfassungskonvent teilgenommen haben, starteten vor kurzem eine Kampagnenseite, auf der sie die Inhalte des Verfassungsentwurfs erklären. Demnach werde es „die erste Verfassung der Welt sein, die anerkennt, dass es eine Klima- und Umweltkrise gibt“.
Fakt ist, dass gemäß Artikel 129 es die Pflicht des Staates ist, Maßnahmen zu ergreifen um durch die Klima- und Umweltkrise bedingte Risiken, Verwundbarkeiten und Folgen zu verhindern, anzupassen und zu vermindern. Außerdem müsse der Staat den Dialog, die Zusammenarbeit und die internationale Solidarität fördern, um sich an die Klima- und Umweltkrise anzupassen, sie abzumildern, ihr zu begegnen und die Natur zu schützen.
Der Verfassungsentwurf nimmt in mehreren Gesetzesartikeln Bezug auf die Natur. Etwa in Artikel 108, in welchem Respekt gegenüber der Existenz der Natur festgeschrieben wird, und „das Recht auf Schutz, Regeneration, Erhaltung und Wiederherstellung ihrer dynamischen Funktionen und Gleichgewichte, die natürliche Kreisläufe, Ökosysteme und biologische Vielfalt umfassen“. Ergänzend „muss der Staat die Rechte der Natur garantieren und beschützen“. Darüber hinaus widmet sich das gesamte dritte Kapitel des Verfassungsentwurfs der Natur und Umwelt (Artikel 127 bis 150).
Historische Zeit
Die Soziologin Pierina Ferretti weist darauf hin, dass die aktuelle chilenische Regierung eine „emanzipatorische Politik“ und „einen Weg zur Überwindung des Neoliberalismus“ erreichen möchte. Angesichts autoritärer und konservativer Projekte der extremen Rechten, könne „das, was in Chile geschieht, zu einem Beispiel für eine andere Welt werden“. Auch wenn „die alte Elite von Chile“ versuche den politischen Wandel im Land aufzuhalten, wie ihre Kollegin Katja Maurer sagt. „Die alte Elite tut alles, um die neue Verfassung noch zu verhindern“, warnt sie. In Chile kommt noch eine besondere politische Konstellation dazu, da Boric keine politische Mehrheit im chilenischen Parlament habe. Deshalb sei die neue Verfassung so entscheidend: „Nur wenn sich der Präsident auf diese Grundlage stützen kann, sind Reformen aussichtsreich“, so Maurer.
Es ist davon auszugehen, dass es im September eine knappe Entscheidung werden wird. Umfragewerte aus dem April und Mai ergaben eine Mehrheit für die Ablehnung des Verfassungsentwurfs (Seite 51).
Möglicherweise stehen diese Umfrageergebnisse in Verbindung mit Desinformationskampagnen, die seit mehreren Monaten in Chile stattfinden und an ähnliche Kampagnen aus den USA, Brasilien und Großbritannien erinnern, die zu einer Polarisierung der Bevölkerung geführt hatten. Nach Angaben der Website Fast Check CL verfangen Fake News, auch wenn manche sehr banal klingen, so wie die Behauptung, dass Flagge, Nationalhymne und Landesname im Verfassungsentwurf geändert worden seien (Stand des Factchecking 09.05.2022).
Mit Amnesty International macht eine weitere Organisation auf die Verfassungsabstimmung in Chile aufmerksam. Die chilenische Bevölkerung habe „die historische Chance, jahrzehntelange Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten zu korrigieren und die Menschenrechte zu verankern“, sagt Erika Guevara-Rosas, Direktorin für die Region Amerikas bei Amnesty International. Auch Musiker:innen mobilisieren für die Zustimmung zur neuen Verfassung.
Der Tag der Entscheidung
Am 4. September sind alle Wahlberechtigten aufgerufen, abzustimmen. Es ist das Jahr, in dem Chilen:innen zum ersten Mal demokratisch über ihre Verfassung abstimmen.