15.07.2022
Keine Brückentechnologie: Erdgas schadet immens, auch ohne Krieg!
Eine Studienanalyse von Heinz Wraneschitz
Dass Erdgas keine Brücken- sondern eine Verhinderungstechnologie auf dem Weg zu einer Welt ausschließlich mit Erneuerbaren Energien ist, erklären die DGS, unser News-Redaktionsteam und auch ich schon seit vielen Jahren. Doch nun haben wir für diese These hochwissenschaftlichen Beistand erhalten: Durch ein fünfköpfiges Forscher:innenteam aus Berlin, Flensburg und Bochum, an der Spitze Prof. Claudia Kemfert vom Umweltdepartment des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung DIW.
„Der Ausbau der Erdgasinfrastruktur gefährdet die Energiewende“: So ist, auf Deutsch übersetzt, der brandaktuelle Beitrag überschrieben, der am 4. Juli im renommierten Fachmagazin „Nature Energy“ erschienen ist.
Gerade mal gut 30.000 Zeichen brauchen die Fünf, um mit der von fast jeder politischen Seite immer und immer wieder als „Brückentechnologie“ hochgelobten Fossilie Erdgas abzurechnen. Das ist auch deshalb so bemerkenswert, weil der Fachartikel sicher schon lange vor dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der russischen Putin-Regierung auf die Ukraine verfasst worden sein muss: Die „Peer Reviews“ für solche Beiträge dauern bekanntlich viele Monate.
„Die erdgasbedingten CO2-Emissionen stiegen zwischen 2009 und 2018 um 2,6 Prozent pro Jahr“, also um ein Viertel, steht als Fakt im Text. Genauso wie die Forschenden nachweisen: „Die Methanemissionen sind viel höher als bisher angenommen.“ Dabei beziehen sie sich auf mehrere Studien, die zeigen: In der öffentlichen Diskussion werde „Erdgas oft als klimafreundliche Alternative zu Kohle dargestellt, die wesentlich geringere negative Auswirkungen auf das Klima hat als andere fossile Brennstoffe. Tatsächlich trifft dies nur unter bestimmten Bedingungen zu. Und die Unterschiede (der Nutzung von Erdgas, Kohle, Öl; d.Red.) in den Klimaauswirkungen sind gering.“
Doch das Hauptübel am politischen Erdgasjubel: „Frühere Studien haben die vorgelagerten Methanemissionen um 50 bis 60 Prozent unterschätzt. Jüngste Forschungsarbeiten zu Methanemissionen im Zusammenhang mit der Erdgasförderung und dem Erdgastransport haben ergeben, dass die tatsächlichen Methanleckageraten weit über früheren Schätzungen liegen. Es gibt jedoch keine einzige, allgemein gültige Zahl für die flüchtigen Methanemissionsraten im Zusammenhang mit dem Erdgassektor.“ Erdgas besteht bekanntlich größtenteils aus Methan.
Erschreckende Zahlen – ohne Konsequenz?
Es sind erschreckende Zahlen, die Kemfert und Co zusammengetragen haben: „Bis zu 3,4 Prozent des geförderten Gases entweicht in die Atmosphäre, bevor es verbrannt wird. Die durchschnittliche globale Gesamtleckagerate wird auf etwa 2,2 Prozent geschätzt. Einige Studien, die einzelne Gasfelder untersuchten, ergaben jedoch sogar flüchtige Emissionsraten von bis zu sechs Prozent der gesamten geförderten Erdgasmenge. Außerdem ergaben einige Messungen Leckageraten von bis zu 17 Prozent für bestimmte Regionen und Umstände.“
Wird dieser nachgewiesene Methanschwund in die Atmosphäre verschwiegen, um die Mär vom ach so sauberen Erdgas nicht zu zerstören? Oder hat es bislang wirklich niemanden interessiert? Bei der - offiziell jedenfalls – verantwortlichen Politik ist das entweder nicht angekommen. Oder Robert Habeck, Markus Söder und andere gerieren sich lieber als Gas-Kassandras, die vor kalten Wintern in Deutschlands Wohnstuben warnen, statt sich mit der Realität beschäftigen zu müssen.
Superemitter und viele kleine Löcher
Es gebe sowohl „Superemitter“ mit „Leckageraten weit über dem Durchschnitt“, beispielweise an Schiefergasförderstätten in Texas. Dieses US-Frackinggas ist bekanntlich in unser aller Politiker Wunschkästlein. Aber es gebe auch „Emissionen großer Mengen Methan aus Punktquellen durch unbeabsichtigte Verarbeitungsprozesse entlang der Erdgasversorgungskette“ ausgelöst durch Fehlfunktionen und Anlagenausfälle“.
Doch all das ist Erdgasbefürwortern schnurzegal. In deren „Szenarien bleiben diese Aspekte weitgehend unberücksichtigt“. So beziehe sich „die Szenarioanalyse von Eurogas nur auf CO2 aus der Energienutzung und Prozessemissionen, während Methanemissionen überhaupt nicht berücksichtigt werden“. Nicht zuletzt werden „die Klimaauswirkungen der Erdgasnutzung bei der Modellierung des Energiesystems und bei der Bilanzierung der nationalen Treibhausgasinventare systematisch unterschätzt“.
Es seien „Erzählungen“, die von interessierten Kreisen an die Politik herangetragen würden, nicht Fakten. Gas sei immer noch „besser als die alte Technologie und wird helfen, Zeit zu gewinnen, bis die erneuerbaren Energietechnologien ausgereift genug sind“, ist so eine Mär. Doch genau damit werde der Übergang in die Erneuerbare Energiewelt bewusst verzögert, meinen die Studienschreiber:innen. Die im Übrigen das voraussahen, was brandaktuell durch den Putin‘schen Ukraineüberfall oder die womöglich bald unendlich verlängerte Revision der Gasleitung NordStream1 offenbar wird: „Investitionen in die Gasinfrastruktur sind mit wirtschaftlichen Risiken verbunden.“ Anders ausgedrückt: „Die wirtschaftlichen Verluste durch gestrandete Gasanlagen mit großer Unsicherheit behaftet und könnten daher viel höher sein.“ Schröder-Putin-Merkel-Schwesigs NordStream2-Dilemma lassen schön grüßen.
Aber mit solchen Investitionen in das Gasfossil werden „Möglichkeiten eingeschränkt, notwendige Investitionen in den Übergang zu Erneuerbaren Energien zu tätigen“. Das Raus aus den Fossilien jedoch könnte „klimabedingte finanzielle Risiken verringern und eine Verzögerung der Energiewende vermeiden“, da sind sich Claudia Kemfert, Fabian Präger, Isabell Braunger, Franziska M. Hoffart und Hanna Brauers sicher.
Der letzte Satz in der Studie fasst alles zusammen, von dem auch ich persönlich überzeugt bin: „Je früher ein Gasausstieg geplant wird, umso mehr vom Emissionsbudget bleibt für jene Sektoren übrig, die schwerer zu dekarbonisieren sind.“ Doch ich bin relativ sicher: Auch diesmal werden wieder eher Gas-Kassandras wie Habeck und Söder erhört werden, nicht aber Kemfert und Co. Leider.
Anmerkung:
Die in „…“ gesetzten Zeilen sind übersetzte Zitate aus der Studie „The expansion of natural gas infrastructure puts energy transitions at risk“. Der Rest ist die Meinung unseres Autoren.