15.07.2022
Bauen in den Niederlanden
Ein Bericht von Götz Warnke
Deutschland mit seiner zentralen Lage, seinem ökonomischen und Bevölkerungspotential, ist einer der zentralen Akteure in Europa. Dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – ist es wichtig, immer auch einen Blick auf die meist kleineren Nachbarstaaten zu werfen. Denn dort ließen und lassen sich in vielerlei Hinsicht auch Lösungen entwickeln und erproben, die im deutschen Mainstream niedergehalten wurden und untergingen. Das gilt u.a. für Dänemark mit seiner Förderung der Windenergie und der solaren Wärme, aber auch für die Niederlande. Hier gibt es nicht nur interessante Ansätze beim Verkehrssystem, über die wir bereits kürzlich berichtet haben, sondern auch im Bauwesen.
Will man das Bauwesen der Niederlande verstehen, so muss man sich einige Rahmenbedingungen verdeutlichen:
- Ein Großteil der Niederlande ist nicht natürlichen Ursprungs, sondern musste und muss durch den Deichbau sowie das Wasserpumpen erhalten werden, oder wurde gar durch Landgewinnungsmaßnahmen neu geschaffen. Jüngstes Beispiel ist die Gewinnung einer ganzen Provinz: Flevoland an der Ostseite des Ijsselmeers, das durchschnittlich fünf Meter unter dem Meeresspiegel liegt. Diese Landerhaltung und Landgewinnung führte und führt dazu, dass sich ein großer Teil des Grund und Bodens in öffentlicher Hand befindet – anders als in Deutschland, wo es seit Jahrhunderten gewachsene Eigentumsstrukturen in Privatbesitz gibt. Das öffentliche Eigentum in den Niederlanden wird natürlich viel stärker von staatlicher bzw. kommunaler Planung beeinflusst.
- Abgesehen von einigen barbarischen Aktionen der Deutschen Wehrmacht (Bombardierung von Rotterdam, Endkampf in Groningen) gab es in den Niederlanden nur relativ geringe Kriegszerstörungen; ein Großteil des Gebäudebestands blieb auch über die Mitte des 20. Jahrhunderts hin erhalten.
- Die Niederlande sind der am dichtesten besiedelte größere Flächenstaat in Europa. Allerdings sind die Verbindungen zwischen den Metropolen recht kurz: von Amsterdam erreicht man in 34 Bahnminuten Utrecht, mit dem „Intercity direct“ in sogar nur 45 Minuten Rotterdam. Beruflich bedingte Binnenmigration/Umzug ist daher in den meisten Fällen nicht erforderlich. Der Neubau und die damit verbundenen Klimalasten resultieren daher zu einem erheblichen Umfang aus der Zuwanderung.
Aus den obigen Rahmenbedingungen ergibt sich u.a. die besondere Bedeutung der energetischen Sanierung. Bekannt, mittlerweile auch in Deutschland, ist die bei unseren Nachbarn entwickelte serielle Wohnungssanierung unter dem Namen „Energiesprong“. Ziel ist es, den Bestand an Geschosswohnungen und Reihenhäusern zu Netto-Nullenergie-Gebäude zu sanieren. Um diesen Net Zero Energy-Standard (NZE) bei jedem Gebäude in kürzester Zeit umzusetzen, werden serienmäßige Fassadendämmelemente, Wärmepumpen, Belüftungssysteme und PV-Module verbaut. Durch die hohen Zahlen an benötigter Technik werden immer wieder Innovationen angereizt: so hat das Startup Blue Heart Energy aus Alkmaar eine thermoakustische Wärmepumpe entwickelt, die problemlos eine Jahresarbeitszahl (JAZ) von 5 erreichen soll. Die Baufirma „Van Pijkeren Bouw Ommen B.V.“ in der Kleinstadt Ommen platziert Luft-Wasser-Wärmepumpen als Schornsteine wie bei diesem Bürogebäude; dadurch wird nicht nur die traditionelle Anmutung erhalten, sondern das Dach dient wohl auch als eine Art solarthermischer Speicher für die WP. Für die eingesetzten „Zonnenpanelen“ (PV-Module) ist es wichtig, in der „Milieulijst“, der offiziellen niederländischen Regierungsliste der nachweislich nachhaltigen Produkte, aufgeführt zu sein.
Energiesprong war ursprünglich ein staatliches Innovationsprogramm zur Umsetzung des Net Zero Energy-Standards bei Gebäuden. Bereits 2013 wurde dann der „Stroomversnelling“-Vertrag mit der Bau- und Wohnungswirtschaft zur Umsetzung des Standards geschlossen, aus dem sich wiederum 2015 eine Initiative/ein Netzwerk von Stakeholdern der verschiedenen Branchen (Architekt:innen, Bauunternehmen, Solar- und WP-Hersteller:innen etc.) bildete. Daher ist Stroomversnelling der heute in den Niederlanden übliche Begriff für diese serielle Sanierung.
Als ein Land, das in großen Teilen unter dem Meeresspiegel liegt, ist die Klimakrise für die Niederlande von besonderer Bedeutung. Das schlägt sich natürlich auch im Bauwesen nieder. So gibt es hier eine vielfältige Holzbautradition, die sich von besonderen Projekten wie dem Cultuurhuis De Kamers in Amersfoort oder das Holz-Hochhaus SAWA das im Rotterdamer Hafenviertel Llloydkwartier an indonesische Reisterrassen erinnert, bis zu seriellen Strandhäusern und Tinyhouses erstreckt.
Wegen der dichten Besiedelung des Landes, aber auch wegen der Sturmflutgefahren gibt in den Niederlanden eine lange Tradition des Wohnens auf dem Wasser: überall in den Grachten sieht man bewohnte Schiffe und Boote, die oft vormals als Warentransportmittel gedient haben. Diese Tradition hat man 2010 neu interpretiert, und in Amsterdams östlicher, neuer Trabantenstadt Ijburg eine Siedlung von schwimmenden Einfamilienhäusern geschafften. Die Basis bilden halbtauchende Betontanks, die die Versorgungstechnik beinhalten und teilweise auch Wohnraum bieten. Darüber befinden sich weitere zwei Etagen, die meist aus leichteren Materialien errichtet sind. Die schwimmenden Häuser sind über Stege, deren Unterseite auch die Versorgungsleitungen aufnehmen, mit dem Festland verbunden; sie können sich aber dem steigenden Wasserspiegel anpassen.
Ob diese Neuinterpretation bei aller Originalität geglückt ist, darüber kann man sich streiten. Wegen der Betontanks und der großzügigen Wohnflächen dürfte hier der CO2-Fußabdruck deutlich größer sein als bei den traditionellen Wohnschiffen.
Ja, es gibt auch in den Niederlanden die ästhetisierenden Architekten, deren Bauwerke auch stets als sichtbarer Ausdruck der eigenen, selbst zugeschriebenen Brillanz und Originalität dienen sollen; aus Nutzersicht sind die Ergebnisse dann oft „zu schön zum Schauen und zu dumm zum Denken“. Doch diese Architekturrichtung, zu Beginn des Jahrtausends als „Superdutch“ bekannt, ist durch die Wirtschaftskrise von 2008 f. erheblich marginalisiert worden. Die heutige niederländische Architektur richtet sich stärker an Nutzer:innen- und Klimabedürfnissen aus. Das zeigt sich auch in internationalen Preisen für nachhaltige Gebäude wie z.B. dem Breeam-Preis, mit dem kürzlich mehrere niederländische Bauten ausgezeichnet wurden.
Dass die Entwicklung in dieser Richtung weiter gehen wird, dafür sorgt nicht nur der staatliche Einfluss mit seinen gesetzlichen Vorgaben und seinen Eingriffsmöglichkeiten über den öffentlichen Grundbesitz. Dafür sorgen auch Netzwerke wie das o.a. „Stroomversnelling“ oder Energiesanierungs-Institute wie Reimark, sowie die öffentliche Diskussion im „Het Nieuwe Instituut“ in Rotterdam, einer in Europa wohl einmaligen Architektur-Institution.
Die deutsche Baukultur kann sich daher in vielerlei Hinsicht ein Beispiel an den Niederlanden nehmen.