15.02.2019
Europas Wärmewende mit Solarthermie
Am heutigen Freitag erscheint in der Fachzeitschrift Applied Energy (Ausgabe 236, Seiten 318-339) ein Artikel mit dem recht sperrigen Titel "Economic and environmental potential for solar assisted central heating plants in the EU residential sector: Contribution to the 2030 climate and energy EU agenda", der zwar seit rund neun Wochen im Web offen zugänglich ist, aber bisher kaum entsprechend zur Kenntnis genommen wurde.
Das Wissenschaftlerteam um Prof. Dieter Boer an den katalanischen Universitäten Lleida und „Rovira i Virgili“ in Tarragona untersucht hier die Möglichkeiten zum Ersatz fossiler Wärmequellen in Fernwärmenetzen durch Solarthermie plus saisonaler Wärmespeicher (CSHPSS). Das Papier fokussiert dabei auf den Wohnsektor, wobei man im Sinne einer methodologischen Vergleichbarkeit ein zu versorgendes Wohnviertel von 1120 Wohnungen mit je 90 qm Fläche annimmt. Im Versorgungsgebiet sollte gemäß der Untersuchung sowohl der Heizwärmebedarf als auch die Warmwasserbereitung gedeckt werden, und zwar im Temperaturbereich von max. 50 bis 60° C. Als Gebiet kommt, da sich schon der Titel auf die EU-Agenda für Klima und Energie bis 2030 bezieht, das gesamte Gebiet der EU in Betracht. Dabei wurden vier Großstädte in verschiedenen EU-Klimazonen ausgewählt: Madrid für das kontinentale Mittelmeerklima, Athen für das reine Mittelmeerklima, Berlin für das mitteleuropäische Klima und Helsinki für das nordische Klima.
Das wichtigste Ergebnis des Artikels: in allen Klimazonen kann das CSHPSS-System einen 90prozentigen Anteil an der Deckung des Wärmebedarfs leisten. Allerdings ist dazu ein unterschiedlich hoher technischer Aufwand sowohl bei der Erzeugung als auch bei der Speicherung notwendig, wie er insbesondere in Tabelle 6 augenfällig wird: während in Madrid 6.900 bis 8.800 qm Kollektorfläche für ein solches Versorgungsgebiet ausreichen und es in Athen sogar nur 2.100 bis 5.600 qm sind, kommen Berlin auf bis zu 25.500 qm und Helsinki sogar auf bis zu 38.100 qm erforderlicher ST-Kollektorfläche. Ähnlich sieht es bei den Volumina der Speicher (in cbm) aus: während in Madrid und Athen maximal 74.300 bzw. 44.400 cbm ausreichen, bedarf es in Berlin und Helsinki Speichervolumina von 198.000 bzw. sogar 288.000 cbm.
Aus dem unterschiedlich hohen technischen Aufwand resultieren auch deutlich unterschiedliche Fernwärmepreise, die jedoch alle um 2030 um oder sogar unter 52 €/MWh liegen dürften, während die auf Fossil-Energien basierten Fernwärmesysteme in ihren Kosten deutlich darüber liegen werden. Auch die Umwelt profitiert von dem Systemwechsel, indem die Umweltauswirkungen um bis zu 86,5% reduziert werden.
Fazit: Diese interessante Studie macht wieder mal das Potential auch der netzgebundenen Solartherme deutlich. Wenngleich derzeit noch keine 100prozentige Deckung des Wärmebedarfs durch ST-Systeme möglich ist, so sind die in Aussicht genommenen 90% bereits eine Lösung für den Wärmesektor. Denn die letzten 10 % des Wärmebedarfs sollten mit den jeweils lokal vorhandenen Ressourcen abdecken lassen: in allen Großstädten u.a. Biogas und Abwärme aus der Kanalisation, in Madrid und Berlin z.B. auch Windenergie, in Athen und Helsinki Meereswärmepumpen, da die Salinität des Wassers dort – im Gegensatz zu vielen Flussmetropolen – hinreichend ist, wie entsprechende Anlagen z.B. in Stockholm zeigen.
Wenngleich der Flächenbedarf bei großen ST-Anlagen insbesondere in Mittel- und Nordeuropa beträchtlich ist, so finden sich auch in Großstädten erhebliche, nutzbare Flächenpotentiale, die die SONNENENERGIE in der Vergangenheit immer aufgezeigt hat – im Zweifelsfall auch in Kombination mit anderen Erneuerbaren-Energien-Systemen. Auffällig ist bei der Studie, dass EU-Städte aus dem Bereich der ozeanischen Klimas (Dublin, London, Rotterdam) nicht in die Untersuchung einbezogen wurden. Diese dürften jedoch bei der ST-Fläche und dem Speichervolumen deutlich unter den entsprechenden Zahlen von Berlin rangieren. Insgesamt bietet der Artikel eine wichtige Landmarke auf dem Kurs zur Wärmewende.
Götz Warnke