14.05.2021
Roboter in spe für die Reaktorruine
Ein Bericht von Tatiana Abarzúa
Diese Woche hat ein Bericht auf der Website News from Science der Fachzeitschrift Science auf die aktuelle Lage in der Reaktorruine von Tschernobyl aufmerksam gemacht. Sensoren im havarierten Reaktorblock 4 zeigen einen unerwarteten Anstieg der Neutronenaktivität an. Diese Messungen werden von Anatolii Doroshenko vom ukrainischen Institut für Sicherheitsprobleme von Atomkraftwerken (ISPNPP) als „Spaltungssignal, das aus einem unzugänglichen Raum strömt“, beschrieben. Maxim Saveliev, auch vom ISPNPP, weist darauf hin, dass es „viele Unwägbarkeiten“ gäbe, und warnt: „Aber wir können die Möglichkeit eines Unfalls nicht ausschließen“.
In Tschernobyl ereignete sich am 26. April 1986 die bis Fukushima größte Atomkatastrophe der Welt. Innerhalb weniger Tage wurden 12 Trillionen Becquerel (12 x 1018 Bq) Radioaktivität freigesetzt, wie eine digitale Tafel einer Ausstellung von .ausgestrahlt zeigt. Um den Grafitbrand zu löschen, die Freisetzung radioaktiver Materialien zu stoppen und die Strahlung abzuschirmen, warfen 80 Helikopter 5.000 Tonnen Bor, Blei, Sand und Lehm über dem Reaktorkern ab, beschreibt die Anti-Atom-Organisation die Lage in einer Broschüre. Der Brand war erst am zehnten Tag unter Kontrolle und fast alle Liquidatoren und Liquidatorinnen – 830.000 Menschen, die zum Atomkatastrophendienst kommandiert wurden – trugen schwere Gesundheitsschäden davon. Wie der IPPNW 2011 berichtete waren in der Ukraine mehr als vier Millionen Menschen von dem radioaktiven Fallout betroffen. Zudem sind über 90 Prozent der Liquidatoren Invaliden. „Liquidatoren altern vorzeitig. Sie erkranken überdurchschnittlich an verschiedenen Krebserkrankungen, an Leukämie, an somatischen und neurologisch-psychiatrischen Erkrankungen“, so der IPPNW. Wie ausgestrahlt die damalige Lage in der Broschüre beschreibt, zogen mehrere radioaktive Wolken über Europa und Kleinasien und der Fallout war dort am größten, wo es regnete: in Deutschland vor allem in Südost-Bayern, Baden-Württemberg, Hamburg und Berlin. Dem Verein zufolge leben weiterhin mehr als 8 Millionen Menschen in vom Tschernobyl-Fallout stark verstrahlten Gebieten Russlands, Weißrusslands und der Ukraine und etwa 10.000 Menschen sind in die Sperrzone zurückgekehrt oder dort geblieben, „von den Behörden geduldet und ungeachtet der nach wie vor gravierend hohen Strahlenbelastung“.
Der unzugängliche Raum um den es hier geht
Die Messungen beziehen sich auf den Raum 305/2 im havarierten Reaktorblock 4 in Tschernobyl. In diesem Raum ist nach dem Super-GAU besonders viel Corium geflossen – eine Kunstwortbildung aus „core“ und der für chemische Elemente charakteristischen Wortendung „ium“. Es bezeichnet das lavaartige Gemisch aus unter anderem geschmolzenem Brennstäben, Zirkon-Ummantelung, Steuerstäben und Sand. Es floss in die unteren Räume der Reaktorhalle und verfestigte sich als brennstoffhaltige Masse („fuel-containing materials“). Wie Science berichtet, sind diese FCM mit etwa 170 Tonnen bestrahltem Uran beladen, 95% des ursprünglichen Brennstoffs.
Im November 2016 wurde ein neuer Stahlmantel („new safe confinement“) über den havarierten Meiler geschoben, der vor Regen schützt, und „für die nächsten 100 Jahre einen Austritt von Strahlen verhindern“ soll. Dieser bogenförmige Stahlschutz gilt als das größte bewegliche Bauwerk der Welt und soll den Betonsarkophag ergänzen, der von der Sowjetunion nach der Kernschmelze errichtet worden war. Mit dem Schutz der Stahlhülle, auch vor Wasser, vermuteten die Beamten in Tschernobyl, dass jegliches Risiko für eine Kritikalität – eine sich selbst erhaltende Spaltung – schwinden würde, so Science. Das sei tatsächlich in den meisten Bereichen passiert – nur nicht in Raum 305/2. Innerhalb eines Zeitraums von vier Jahren verdoppelte sich dort die Neutronenzahl. Ein Raum, „der Tonnen von FCM enthält, die unter Trümmern begraben sind”.
„Neutronen aufsaugen“ – Die Lösung muss noch geschaffen werden
Saveliev zufolge verläuft der Anstieg der Anzahl der Neutronen langsam. Er sagt, dass es für das Management noch „einige Jahre“ Zeit gäbe, „um herauszufinden, wie man die Bedrohung eingrenzen kann“. So soll ein Roboter entwickelt werden. Geplant ist, laut Science, dass ein solcher Roboter „der intensiven Strahlung lange genug standhalten kann, um Löcher in die brennstoffhaltige Masse zu bohren, um Bor-Zylinder einzusetzen, die wie Kontrollstäbe funktionieren und Neutronen aufsaugen würden“. Außerdem plant das ISPNPP eine Intensivierung der Überwachung. Damit ist das Monitoring von Messungen in zwei Bereichen gemeint, „in denen die brennstoffhaltige Masse das Potenzial hat, kritisch zu werden.“