12.11.2021
Einer der letzten Intellektuellen – und ich
Ein Bericht des Erlebens und Suchens von Heinz Wraneschitz
Für Klaus Wiegandt, den Vorstand der Stiftung „Forum für Verantwortung“ ist er „einer der letzten Intellektuellen – es gibt gar nicht mehr so viele“. Doch nicht nur wegen dieser Einordnung war ich genauso wie die anderen im Raum gespannt, welche „unfertigen Gedanken in einer unfertigen Situation“ der letzte Impulsgeber des Seminars „Klimawandel und Klimakommunikation“ in der Europäischen Akademie Otzenhausen uns vortragen würde. Denn der so Angekündigte war Harald Welzer, fernseh-talkshowgestählter Uniprofessor für Transformationsdesign aus Flensburg und Autor zahlreicher philosophischer Bücher-Bestseller.
50 Jahre nach dem Klimabuch des Club of Rome – „die 30 Jahre zum Umsteuern sind längst vorbei“ – sei die Politik völlig überfordert davon, „dass die Klimakrise im Mittelpunkt steht. Das ist für die Politiker etwas Neues. Denn die Atmosphäre verhandelt nicht. Sie ist kein Verhandlungspartner, sie schafft Fakten.“ Bislang habe sich die moderne Gesellschaft hauptsächlich um die soziale Frage gekümmert – da geht es um Menschen, mit denen man reden kann.
Wir Zuhörenden wissen nicht so recht, was wir davon halten sollen, als Welzer sarkastisch erklärt: „Wenn der Schellnhuber recht hat, mach ich jetzt eine Weltreise, weil in 10 Jahren geht das nicht mehr.“ Hat der Referent, er ist immerhin schon 63 Jahre alt, seine eigene Zukunft bereits abgeschrieben? Den passenden Buchtitel dafür hatte er ja einen Tag zuvor auf der Frankfurter Buchmesse präsentiert: „Nachruf auf mich selbst.“
Doch dann kommt der Schalk hinter der Aussage zum Vorschein. Zum Stern-Chefredakteur habe er gesagt, „ihr seid nicht ganz dicht“, als das Magazin kürzlich eine Geschichte über „die nachhaltigsten Kreuzfahrtschiffe“ veröffentlicht hat. Und als Welzer erklärt, „zwei bis acht Prozent mehr Wachstum bedeuten auch zwei bis acht Prozent mehr Verbrauch. Das ist banal, es ist trivial“, überlege ich mir tatsächlich: Hätte ich nicht auch lieber Transformationsphilosophie oder etwas Ähnliches studieren sollen statt Elektrotechnik? Denn diesen Zusammenhang habe ich auch schon oft und öfter Politiker*innen erklärt, ohne bei denen auf Verständnis zu stoßen.
Wachstum, Wachstum, Wachstum: „Unsere Gesellschaftsform ignoriert, dass die zukünftigen Probleme allein darauf beruhen. Der Markt wird gar nichts regeln“, sagt Welzer. Der ist über die Koalitionsverhandler*innen „fassungslos, dass die einzige Maßnahme, die sofort geht und nichts kostet, nicht umgesetzt wird: Tempo 130.“
„An den Rand schieben, wegdenken“ nennt Prof. Welzer das (Nicht-)Handeln der Politik. Und in weiser Voraussicht auf die Wochen später laufenden neuen und eigentlich altbekannten Welt-Klimaverhandlungen erklärt er schon in Nonnweiler: „Ziele formulieren, das ist nicht belastbar. Weil bis das Ziel erreicht ist, ist der sie formuliert hat, schon tot. Und wenn ich Ziele setze, brauche ich nichts zu tun.“ Stimmt. Denn die an den weniger bekannten Klimagipfeln von Montreal/Toronto 1987/88 oder dem immer wieder zitierten in Kyoto 1997 dabei waren, sind heute nicht mehr in der Verantwortung. Und die jetzt beim „COP 26“ in Glasgow tun so, als würden sie etwas verhandeln, was ganz neu sei. Dabei bräuchten sie nur auf das Tokyo-Protokoll schauen, um festzustellen: Eigentlich reden wir immer noch über dasselbe. Aber eben zum 26. Male.
Und ich frage mich: Wozu hat eigentlich die Enquete-Kommission „Schutz der Erde“ während der 11. Bundestags-Periode jahrelang getagt und 1990 ihre „Bestandsaufnahme mit Vorschlägen zu einer neuen Energiepolitik“ vorgelegt, wenn heute Fridays oder Opas for Future die damals festgestellten Defizite immer noch einfordern müssen; wenn der gerade noch „amtierende Bundesenergieminister“ und seine Vorgänger*innen die Umsetzung dieser notwendigen Maßnahmen eher behindern als voranschieben? Heute sind die zwei Bände nur noch im Antiquariat zu haben. Doch natürlich stehen sie in meinem Bücherschrank griffbereit.
Und so wundert mich nicht, dass Harald Welzer – anders als die Tausenden in Glasgow – fordert: „Lasst uns das 1,5-Grad-Ziel vergessen – das bindet viel politische Energie. Denn Fakt ist, denkt nur ans Ahrtal: Wir befinden uns bereits in den Klimafolgen. So lange ich sage, Paris wird umgesetzt, passiert nichts“, sagt er voraus – und da bin ich bei ihm. Doch ob ein internationaler Umweltgerichtshof – den fordert der Professor nämlich – die verantwortliche Politiker*innen wirklich zum Umdenken bewegen würde, bezweifle ich: Selbst Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs gehen nicht nur Regierenden in Polen, sondern auch hierzulande am Allerwertesten vorbei, wie beispielsweise bei Urteilen mit Berufung auf die völkerrechtlichen Aarhus-Verträge laufend zu erleben ist.
Die Kraft der Greta
Doch Welzer denkt wohl an verschwundene Weltreiche, wenn er erwähnt: „Gesellschaftliche Veränderungen haben eigene Logik. Das kann sehr schnell gehen, aber auch sehr lange dauern. Was hatte Greta mit ihrem Schildchen anfangs für eine Kraft? Dass sich das so entwickelt, war nicht im Planspiel vorauszusehen“, stellt der Philosoph die Entwicklung von FFF in den letzten Jahren als große Hoffnung dar. „Das können die Politiker nicht berechnen.“ Genauso wenig wie „das Klimasystem. Das verändert sich absichtslos. Der Sachverhalt zwingt uns dazu, uns zu ändern“, sei die Konsequenz. Wobei Mehrheiten - aktuell hat ja der Klimaschutz in vielen Umfragen eine große gesellschaftliche Mehrheit - nicht das Alleinseligmachende sind: „Die große Mehrheit der Gesellschaft fand damals Hitler gut“, erinnert Welzer an eine Geschichte, an die sich viele Deutsche nicht mehr so gerne erinnern wollen.
„Wir müssen anerkennen, dass wir alle nicht den richtigen Weg kennen. Es ist eine Suchbewegung. Der menschgemachte Klimawandel ist historisch neu, deshalb wissen wir nicht, welche Pfade erfolgreich sind. Das müssen wir gemeinsam experimentieren.“ Harald Welzers Schlussbemerkung macht mir Hoffnung.
Wobei ich gespannt bin, ob die Ampelschaffenden in Berlin sich trauen, gemeinsam mit uns zu experimentieren, oder sich lieber mit ihresgleichen in Kompromissen ergehen. Die Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock ließ dieser Tage ja schon erkennen, dass sie wohl eher in die alten Fußstapfen des Ziele-Setzens treten will, als selber einen beschwerlichen, neuen Klima-Weg zu suchen.
Mein pragmatisches Fazit: Ich suche lieber weiter selber. So wie die Philosophen Heinz Rudolf Kunze (1988) oder Harald Welzer (2021).
PS: Eigentlich ist auch Welzer kein Philosoph, sondern promovierter Soziologe. Aber wie man bei ihm sieht, ist „Learning by Doing“ nicht der schlechteste Weg, die eigene Bestimmung zu begreifen.